Vor seiner Reise nach Brüssel ist für den britischen Premierminister Boris Johnson noch kein Kompromiss im Streit um ein Handelsabkommen nach dem Brexit in Sicht. Beide Seiten seien “weit voneinander entfernt”, sagte Johnson am Dienstag. Die Bundesregierung forderte den Premier zu Zugeständnissen auf und warnte vor den Folgen eines Scheiterns. Aus dem EU-Parlament kam die Forderung, die Verhandlung ins neue Jahr hinein zu verlängern. Eine Einigung gab es jedoch im Streit um den künftigen Status von Nordirland.
“Wir wollen einen Deal, aber nicht zu jedem Preis”, sagte Europa-Staatsminister Michael Roth (SPD) mit Blick auf die Gespräche über ein Handelsabkommen. “Was wir brauchen, ist politischer Wille in London.” Grundlage für die künftigen Beziehungen sei Vertrauen. “Genau dieses Vertrauen steht in unseren Verhandlungen nun auf dem Spiel.”
Die EU werde für eine Vereinbarung mit Großbritannien “niemals” ihre “Zukunft opfern”, erklärte EU-Chefunterhändler Michel Barnier im Online-Dienst Twitter. Der von Großbritannien angestrebte Zugang zum EU-Binnenmarkt müsse an Bedingungen geknüpft sein. Unter den Mitgliedstaaten gebe es “vollständige Einheit” bei der EU-Position gegenüber London.
Er sei “immer optimistisch”, doch aktuell sei “die Situation schwierig”, sagte Johnson. “Unsere Freunde müssen verstehen, dass das Vereinigte Königreich die EU verlassen hat, um demokratische Kontrolle ausüben zu können.”
Johnson will “in den nächsten Tagen” in Brüssel mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen über eine Lösung für die blockierten Verhandlungen beraten. Beide hatten am Montagabend nach einem Telefongespräch erklärt, die Voraussetzungen für ein Abkommen seien weiter nicht gegeben. Ein Kommissionssprecher sagte am Mittag, ein Termin für das Treffen stehe weiter nicht fest.
Roth verwies darauf, dass es weiter keine Einigung in “drei wesentlichen Bereichen” gibt. Dabei geht es um faire Wettbewerbsbedingungen, die Kontrolle der Einhaltung eines künftigen Abkommens und die Fangrechte für EU-Fischer in britischen Gewässern.
Eine Einigung wurde allerdings im Streit um den künftigen Status für Nordirland erzielt. Der britische Staatssekretär Michael Gove und EU-Vizepräsident Maros Sefcovic hätten bei einem Treffen in Brüssel eine Grundsatz-Einigung erzielt, insbesondere zur Grenzfrage zwischen Nordirland und Irland, erklärte die britische Regierung am Dienstag.
Demnach wird Großbritannien drei umstrittene Klauseln aus seinem Brexit-Binnenmarktgesetz streichen, das derzeit im britischen Parlament debattiert wird und das in der EU auf Empörung gestoßen war, weil die anderen EU-Länder darin einen Verstoß gegen den eigentlichen Brexit-Vertrag sahen. “Ich hoffe, dass dadurch ein positiver Impuls entsteht, auch für die Diskussionen über das Handelsabkommen”, sagte Sefcovic.
Auch in Irland wurde die Einigung begrüßt: Die Fragen rund um die Grenze seien nun alle geklärt, sagte der irische Außenminister Simon Coveney.
Großbritannien war zum 1. Februar aus der EU ausgetreten. Bis Jahresende bleibt es aber noch im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Diese Übergangsphase wollten beide Seiten eigentlich nutzen, um das Handelsabkommen auszuhandeln. Inzwischen ist die Zeit für eine rechtzeitige Ratifizierung bis zum 1. Januar äußerst knapp.
Bisher galt eine Verlängerung über diese Frist hinaus in Brüssel als ausgeschlossen. Auch die britische Seite hatte dies am Montag erneut abgelehnt.
Angesichts der verfahrenen Lage kommen nun aber von EU-Seite erste Forderungen nach einer Verlängerung ins neue Jahr hinein. “Meiner Ansicht nach können beide Partner sagen, wir verlängern für einen Monat”, sagte der Vorsitzende des Handelsausschusses im Europaparlament, Bernd Lange (SPD), im Deutschlandfunk.
“Wenn es am 1. Januar keine Vereinbarung gibt, gibt es keine Vereinbarung”, sagte ein Kommissionssprecher zu solchen Überlegungen. Er schließe aber nicht aus, dass nach einem solchen No-Deal-Ergebnis wieder Verhandlungen mit London aufgenommen würden.
Ohne Einigung würden im beiderseitigen Handel zum Jahreswechsel Zölle erhoben. Wirtschaftsverbände rechnen dann nicht nur mit massiven Staus an den Grenzen im Lieferverkehr, sondern auch mit Milliarden an Mehrkosten und Einnahmeausfällen.
© Agence France-Presse