Ein völlig offener Wahlausgang und ein Präsident, der sich vorzeitig zum Sieger erklärt: Am Tag nach der US-Präsidentschaftswahl hat Amtsinhaber Donald Trump sein Land an den Rand einer politischen Krise gebracht, indem er die Rechtschaffenheit der Abstimmung offen anzweifelte. In einem bisher beispiellosen Schritt kündigte er am Mittwochmorgen an, die noch laufende Stimmauszählung gerichtlich stoppen lassen zu wollen. Das Team von Herausforderer Joe Biden sprach von einem Skandal.
“Wir haben diese Wahl gewonnen”, sagte Trump im Weißen Haus, obwohl der Ausgang der Wahl noch völlig unklar war. Der Amtsinhaber sprach von angeblichem “Betrug an der Nation” bei der Wahl. “Wir werden vor den Supreme Court ziehen. Wir wollen, dass alles Wählen endet.”
Später legte Trump nochmal nach: Auf Twitter prangerte er ein angebliches “Verschwinden” republikanischer Wählerstimmen an. Am Dienstagabend habe er in vielen Schlüsselstaaten noch einen “soliden” Vorsprung vor Biden gehabt, der “auf zauberhafte Weise” verschwunden sei. Stattdessen seien “Überraschungsstimmen” ausgezählt worden.
Vermutlich bezog sich Trump auf die in vielen Bundesstaaten noch laufende Auszählung von Briefwahlstimmen. Experten zufolge dürfte die Mehrheit der Briefwähler für Biden gestimmt haben. Mehr als hundert Millionen US-Wähler hatten ihre Stimme bereits vor dem Wahltag abgegeben, 65,2 Prozent von ihnen per Post. Am Wahltag selbst stimmten laut dem US Elections Project der Universität Florida weitere rund 60 Millionen Wähler ab, wodurch die Wahlbeteiligung eine Rekordhöhe von 66,9 Prozent erreichte.
Bidens Team wies Trumps Ankündigung, vor das Oberste Gericht zu ziehen, als “skandalös” und “beispiellos” zurück. “Niemals zuvor in unserer Geschichte hat ein Präsident der Vereinigten Staaten versucht, den Amerikanern in einer nationalen Wahl ihre Stimme wegzunehmen”, erklärte Wahlkampfchefin Jen O’Malley Dillon.
Sowohl Trump als auch Biden konnten einige wichtige Teilerfolge erringen: US-Sender verkündeten einen Sieg des Amtsinhabers in Florida und Ohio; vor allem ohne Florida hätte Trump praktisch keine Chance auf eine zweite Amtszeit gehabt.
Biden wiederum konnte unter anderem die “Swing States” New Hampshire und Minnesota gewinnen. Er zeigte sich daraufhin zuversichtlich: Er sei “auf Kurs, diese Wahl zu gewinnen”, sagte er vor Anhängern in seinem Heimatstaat Delaware. Später gewann er auch das traditionell konservative Arizona.
Alle Augen richteten sich damit auf die wahlentscheidenden Staaten Michigan, Pennsylvania und Wisconsin. Während Demoskopen Biden in Michigan und Wisconsin knapp vorn sahen, wurde Trump am Mittwochvormittag ein Vorsprung in Pennsylvania zugesprochen. Noch nicht ausgezählt waren allerdings die Stimmen in den als Hochburgen der Demokraten geltenden Großstädten Detroit, Philadelphia und Milwaukee. Bidens Wahlkampfmanagerin O’Malley Dillon gab sich zuversichtlich, dass der Demokrat die nötige Zahl der Wahlleute-Stimmen auf sich vereinen werde. Dies sei eine “sichere Folgerung” aus den vorliegenden Prognosen.
Vor allem Pennsylvania rückte zunehmend in den Fokus; dort werden Briefwahlstimmen mit Poststempel vom Wahltag auch dann angenommen, wenn sie noch bis Freitag bei den Behörden eingehen. “Wenn alles geplant weitergeht, werden wir das Gesamtergebnis in den kommenden Tagen haben”, sagte Al Schmidt, Wahlleiter von Philadelphia, im Sender CNN. Er betonte zugleich, dass noch nicht alle Briefwahlstimmen eingegangen seien. “Wir können nicht zählen, was wir nicht haben.”
Bereits vor dem Urnengang hatte es Befürchtungen gegeben, dass der Amtsinhaber eine mögliche Niederlage nicht anerkennen könnte. Auch gab es Ängste vor Unruhen. In der Wahlnacht zogen in der Westküsten-Metropole Portland teils bewaffnete Aktivisten vor das dortige Gerichtsgebäude; sie skandierten Anti-Trump-Parolen.
Für den Sieg bei der US-Präsidentschaftswahl muss ein Kandidat mindestens 270 der insgesamt 538 Wahlleute gewinnen, die auf Ebene der Bundesstaaten vergeben werden. Biden lag nach einer auf Angaben der US-Sender basierenden Zählung der Wahlleute-Stimmen am Mittwochnachmittag (MEZ) vorerst bei 238 Wahlleute-Stimmen, Trump bei 213.
Parallel zur Präsidentschaftswahl wurde der Kongress in großen Teilen neu gewählt. Dabei konnten die Demokraten laut US-Sendern ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus ausbauen. Im Senat dagegen stiegen die Chancen der Republikaner, diesen weiterhin dominieren zu können: Sie konnten laut US-Medien unter anderem in Iowa und North Carolina zwei Sitze verteidigen, bei denen laut Umfragen die Demokraten gute Chancen auf einen Sieg hatten.
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