Im Zeichen anhaltender politischer Spaltung begehen die USA am Donnerstag den ersten Jahrestag der Kapitol-Erstürmung vom 6. Januar 2021. US-Präsident Joe Biden wird im Kongress und damit am Ort des Angriffs eine Rede halten – und will dabei seinen Vorgänger Donald Trump direkt für die Gewalt verantwortlich machen. Viele von Trumps Republikanern dürften den Gedenkveranstaltungen im Parlament aber fernbleiben, ein weiteres Symbol für die tiefen politischen Gräben im Land.
Hunderte radikale Trump-Anhänger hatten vor einem Jahr das Kapitol gestürmt, als dort Bidens Sieg bei der Präsidentschaftswahl vom November 2020 zertifiziert werden sollte. Trump hatte unmittelbar zuvor seine vielfach widerlegten Wahlbetrugsvorwürfe erneuert und seine Anhänger zum Marsch auf das Kapitol aufgerufen. Der Sturm auf den Sitz des Kongresses mit fünf Toten sorgte weltweit für Entsetzen und gilt als schwarzer Tag in der Geschichte der US-Demokratie.
Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris werden am Donnerstagmorgen (15.00 Uhr MEZ) Reden in der Statuen-Halle des Kongresses halten. Geplant sind auch Ansprachen der Vorsitzenden des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, eine Schweigeminute und ein Gespräch mit Historikern über die Ereignisse des 6. Januar.
War Biden bislang weitgehend die Strategie gefahren, seinen Vorgänger und dessen anhaltende Wahlbetrugsvorwürfe zu ignorieren, will er den Rechtspopulisten nun scharf angehen. Der Präsident werde in seiner Rede die “Verantwortung” Trumps für das “Chaos und Blutbad” vom 6. Januar hervorheben, sagte Bidens Sprecher Jen Psaki am Mittwoch vor Journalisten. Er werde auch “energisch den Lügen entgegentreten, die der frühere Präsident verbreitet, um die Amerikaner und seine eigenen Anhänger in die Irre zu führen.”
“Präsident Biden ist sehr scharfsichtig, was die Bedrohung angeht, die der frühere Präsident für unsere Demokratie darstellt”, sagte Psaki weiter.
Allerdings dürften viele Parlamentarier der Republikaner gar nicht erst an den Veranstaltungen im Kongress teilnehmen. So wird der Minderheitsführer der Konservativen im Senat, Mitch McConnell, im Bundesstaat Georgia einem Begräbnis eines verstorbenen Senators beiwohnen. Viele Republikaner meiden scharfe Worte zur Kapitol-Erstürmung, um nicht den Zorn Trumps auf sich zu ziehen, der in der Partei nach wie vor der starke Mann ist und bei der Basis großen Rückhalt genießt.
Trump selbst hat kürzlich erklärt, am 6. Januar habe ein “vollkommen unbewaffneter Protest gegen die manipulierten Wahlen statt”. Der Ex-Präsident hatte für den ersten Jahrestag der Kapitol-Erstürmung eigentlich eine Pressekonferenz in seinem Anwesen Mar-a-Lago im Bundesstaate Florida geplant, diese dann aber kurzfristig abgesagt. Er begründete das mit der “totalen Voreingenommenheit und Unehrlichkeit” der Medien und des Kongressausschusses, der den gewalttätigen Angriff seiner Anhänger auf das Parlament untersucht.
Ein Untersuchungsausschuss des Repräsentantenhauses befasst sich seit vergangenem Sommer mit den Hintergründen der Kapitol-Erstürmung. Die US-Justiz hat derweil seit dem Angriff im ganzen Land mehr als 725 Verdächtige festgenommen und angeklagt.
Justizminister Merrick Garland versprach vor dem Jahrestag, sein Ministerium sei entschlossen, die Verantwortlichen “auf allen Ebenen” zur Rechenschaft zu ziehen. Bei der Strafverfolgung spiele es keine Rolle, ob die Verantwortlichen am Tag des Sturms auf das Kapitol vor Ort gewesen seien “oder auf andere Art in krimineller Weise verantwortlich auf den Angriff auf unsere Demokratie sind”.
Das ist ein Hinweis, dass die Justiz auch die politisch Verantwortlichen für die Kapitol-Erstürmung ins Visier nehme könnte – möglicherweise einschließlich Trump.
Derweil mahnte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bei ihrem Antrittsbesuch in Washington mit Blick auf den Jahrestag einen verstärkten Einsatz für Demokratie an. “Wir haben vor einem Jahr als Deutsche, als Europäer alle in tiefer, tiefer Freundschaft und erschüttert nach Washington geschaut”, sagte Baerbock vor dem Kapitol. Eine der Lehren des 6. Januar sei, “dass Demokratie nicht vom Himmel fällt, sondern dass Demokratie starke Demokratinnen und Demokraten braucht”.
Quelle: AFP