Die Sicherheitslage am Kabuler Flughafen hat sich gefährlich zugespitzt und die Rettungsaktionen Deutschlands und anderer Nato-Staaten massiv erschwert. Die Bundeswehr flog am Samstag mehr als 200 Menschen aus Kabul aus – beim ersten von zwei Evakuierungsflügen waren aber nur acht Menschen an Bord. Die Auswärtige Amt erklärte, die Situation am Flughafen der afghanischen Hauptstadt sei “gefährlich” und “volatil”. Die US-Botschaft warnte davor, zum Flughafen zu kommen.
Vor einer Woche hatten die radikalislamischen Taliban die Macht in Afghanistan wieder an sich gerissen. Seitdem versuchen unzählige Menschen verzweifelt, das Land zu verlassen. Im Kabuler Flughafen warteten am Samstag weiter tausende Afghanen mit Ausreisepapieren auf Flüge. US-Soldaten hielten tausende Menschen ohne Papiere davon ab, auf das Flughafengelände zu gelangen.
Bis Samstagmittag hatte die Bundeswehr nach eigenen Angaben insgesamt mehr als 2000 Menschen aus Kabul ausgeflogen. Nachdem eine erste Maschine am Samstagmittag nur acht Menschen in die usbekische Hauptstadt Taschkent bringen konnte, waren in einem zweiten Flieger am Abend 205 Menschen an Bord.
Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagte, es werde trotz der schwierigen Lage weiter daran gearbeitet, so viele Menschen “wie möglich” aus Afghanistan in Sicherheit zu bringen.
Die US-Botschaft in Kabul warnte am Samstag auf ihrer Internetseite: “Aufgrund potenzieller Sicherheitsbedrohungen vor den Toren des Flughafens Kabul raten wir US-Bürgern, derzeit nicht zum Flughafen zu reisen und die Tore des Flughafens zu meiden.” Zur genauen Art der Bedrohung machte die Botschaft in der Mitteilung keine Angaben.
Das Auswärtige Amt erklärte, der Zugang zum Flughafen sei häufig nicht möglich. Die Tore würden immer wieder “kurzfristig” geöffnet und geschlossen.
Wie gefährlich und chaotisch die Lage rund um den Flughafen ist, zeigte sich auch daran, dass US-Soldaten mit Hubschraubern losfliegen mussten, um am Freitag 169 Menschen sicher zum Flughafen zu bringen. Grund sei eine “große Menschenmenge” vor dem Flughafen gewesen, sagte Pentagon-Sprecher John Kirby. Auch die Bundeswehr schickte zwei Hubschrauber nach Kabul, die laut Kramp-Karrenbauer am Samstag startbereit waren.
Auf dem Weg zum Flughafen war am Freitag ein Deutscher angeschossen worden. Ein weiterer Deutscher erlitt nach ZDF-Informationen in der Nähe des Flughafens leichte Verletzungen.
Die USA nutzen für ihre Rettungsflüge aus Kabul inzwischen auch die Luftwaffenbasis Ramstein in Rheinland-Pfalz als Drehscheibe. Bis zum späten Samstagvormittag landeten dort nach Angaben einer Sprecherin des Stützpunkts elf Maschinen mit rund 1150 Menschen. Über die Drehscheibe Katar wurden nach Angaben eines katarischen Regierungsbeamten inzwischen mehr als 7000 Menschen ausgeflogen.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderte am Samstag alle Mitgliedsländer der EU zur Aufnahme schutzbedürftiger Afghanen auf. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte allerdings, es sei “mathematisch unmöglich”, bis Ende August alle Ortskräfte der USA und anderer Nato-Staaten aus Afghanistan auszufliegen. Borrell machte die strengen Sicherheitsvorkehrungen des US-Militärs am Kabuler Flughafen mitverantwortlich für die Probleme.
Angesichts der dramatischen Lage griff Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock die Bundesregierung scharf an. “Ich sehe ein riesengroßes Versagen”, sagte sie der “Süddeutschen Zeitung” vor allem mit Blick auf Außenminister Heiko Maas (SPD) und Innenminister Horst Seehofer (CSU). Seit Monaten sei klar gewesen, dass afghanische Ortskräfte Schutz bräuchten. Auch die Linke sprach von einem “Totalversagen” von Maas und anderen Ministern.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) räumte bei einer Wahlkampfveranstaltung der Union Fehleinschätzungen ein. “Die afghanische Regierung und Armee sind in einem atemberaubenden Tempo kollabiert”, sagte sie.
Unklar blieb derweil, wie die künftige Taliban-Führung in Afghanistan genau aussehen soll. Zu Gesprächen über die Regierungsbildung reiste Taliban-Mitbegründer Mullah Abdul Ghani Baradar nach Kabul. Ziel sei die Bildung einer “inklusiven Regierung”, sagte ein Taliban-Vertreter.
Quelle: AFP