Angesichts der dramatischen Lage in Afghanistan seit der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban warnen die Vereinten Nationen vor einer Verschärfung der Hungersnot in dem bitterarmen Land. “Jeder dritte Mensch” sei von schwerem oder akutem Hunger bedroht, sagte die Leiterin des Welternährungsprogramms (WFP) in Afghanistan, Mary-Ellen McGroarty, am Freitag der Nachrichtenagentur AFP. Die UNO warnte zudem vor der systematischen Verfolgung von afghanischen Regierungsmitarbeitern und Nato-Ortskräften.
WFP-Länderchefin McGroarty zufolge betrifft der Nahrungsmangel bereits 14 Millionen Menschen. Ursachen seien zum einen der Klimawandel, zum anderen der militärische Konflikt zwischen Regierung und radikalislamischen Taliban. Das Land sehe sich mit der “zweiten schweren Dürre innerhalb von drei Jahren konfrontiert”. Wegen des trockensten Winters seit 30 Jahren sei die Weizenernte um 40 Prozent zurückgegangen, die Weizenpreise seien bereits 24 Prozent über dem Durchschnitt der letzten fünf Jahre.
Durch den Vormarsch der Taliban hätten zudem viele Bauern ihre Ernte nicht einbringen können, berichtete die WFP-Länderchefin. Viele seien geflohen, Obstgärten seien zerstört. Auch die Zerstörung von Brücken, Dämmen und Straßen erschwere den Zugang der Bevölkerung zu Nahrungsmitteln.
Besonders unter Hunger leiden die Kinder. Der Deutschland-Geschäftsführer des Kinderhilfswerks Unicef, Christian Schneider, sagte der “Neuen Osnabrücker Zeitung”: “Wir haben fast zehn Millionen Kinder, die dringend Hilfe brauchen, um überleben zu können.” Bis zum Jahresende befürchte Unicef, dass “bis zu eine Million Kinder schwer mangelernährt sein könnte”.
Unterdessen wächst in Afghanistan auch die Furcht vor Racheakten der Taliban an afghanischen Regierungsmitarbeitern und Nato-Ortskräften. Zwar hatten die Islamisten nach ihrer Machtübernahme eine Generalamnestie für alle Regierungsmitarbeiter verkündet – doch laut einem UN-Bericht führt die Miliz eine “Prioritätenliste” von Menschen, die sie festnehmen wolle.
Die Taliban suchten demnach Häuser der Zielpersonen und ihrer Familien auf. Auch auf der Straße zum Flughafen in Kabul nehme die Gruppe Personenkontrollen vor. Zudem hätten die Taliban Kontrollpunkte in größeren Städten eingerichtet, darunter Kabul und Dschalalabad.
Der Bericht stammt vom norwegischen Zentrum für globale Analysen, einer NGO, die Lageeinschätzungen für verschiedene UN-Agenturen erstellt. Es sei zu befürchten, dass Afghanen, die mit den Nato- und US-Truppen kooperiert haben, und ihre Angehörigen Opfer von “Folter und Hinrichtungen” werden, sagte der Leiter des Instituts, Christian Nellemann.
Die Taliban bekräftigten, dass es ihren Kämpfern verboten sei, Privatwohnungen zu betreten. Das hochrangiges Mitglied Nasar Mohammed Mutmaeen gab allerdings zu, dass einige Kämpfer sich nicht daran hielten – “möglicherweise aus Unwissenheit”, wie er auf Twitter schrieb. “Wir schämen uns und haben keine Antwort darauf.”
Die Deutsche Welle (DW) berichtete am Donnerstag über einen Angriff auf die Familie eines DW-Journalisten. Einer seiner Verwandten sei dabei getötet und ein weiter schwer verletzt worden. Der Journalist arbeite inzwischen in Deutschland.
Aus Furcht vor den Taliban versuchten am Freitag weiterhin tausende Menschen, Afghanistan zu verlassen. Stand Donnerstagnacht brachten westliche Militärflugzeuge mehr als 9000 Menschen aus Kabul in Sicherheit. Die Bundeswehr flog mehr als 1600 Menschen aus, die Evakuierungsaktion soll nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums demnächst durch zwei Hubschrauber unterstützt werden.
In der angespannten Lage wurde ein Deutscher auf dem Weg zum Flughafen durch Schüsse verletzt. Es handele sich dabei um einen Zivilisten, sagte Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer. Bei dem Mann bestehe keine Lebensgefahr, er solle demnächst aus Kabul aufgeflogen werden.
Die Krise beschäftigt die Staatenlenker weltweit. Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte am Freitag bei einem Besuch in Moskau mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin auch über Afghanistan sprechen. Die Außenminister der Nato wollten ebenfalls am Freitagnachmittag über die Lage beraten.
Quelle: AFP