Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan haben die radikalislamischen Taliban mit dem Versprechen einer gemäßigten Herrschaft um Vertrauen im Ausland geworben. Die Miliz erklärte den Krieg für beendet, erließ eine Generalamnestie und stellte die baldige Bildung einer neuen Regierung in Kabul in Aussicht. Bei westlichen Staaten stießen die Ankündigungen auf Skepsis. Sie setzten die Rettungsaktionen für ihre Staatsbürger und gefährdete Afghanen am Mittwoch unter Hochruck fort.
“Wir werden dieses Regime nicht nach seinen Worten, sondern nach seinen Entscheidungen und Taten beurteilen”, sagte der britische Premierminister Boris Johnson bei einer Dringlichkeitssitzung im Parlament. Entscheidend sei die Haltung der Taliban “zum Terrorismus, zur Kriminalität und zum Drogenhandel” und ob sie humanitäre Hilfe und das Recht der Mädchen auf Bildung gewährleisten.
Auch die US-Regierung reagierte verhalten auf die Zusagen der Islamisten. “Wenn die Taliban sagen, dass sie die Rechte ihrer Bürger respektieren werden, werden wir darauf achten, dass sie sich an diese Aussage halten und sie in die Tat umsetzen”, erklärte der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price. Das Weiße Haus kündigte für kommende Woche ein virtuelles Gipfeltreffen der G7-Staaten zur Lage in Afghanistan an.
Die Taliban hatten am Dienstagabend bei einer Pressekonferenz in Kabul Grundzüge ihrer künftigen Politik skizziert. Dabei traten sie Befürchtungen entgegen, sie könnten eine ähnliche Schreckensherrschaft errichten wie zwischen 1996 und 2001. “Der Krieg ist zuende”, und “jeder” sei begnadigt, sagte Taliban-Sprecher Sabihullah Mudschahid. “Wir werden keine Rache nehmen.” Die neue Taliban-Herrschaft werde sich “positiv” von ihrem früheren Regime unterscheiden. Damals folgte die Gruppe einer extrem rigiden Auslegung der Scharia, des islamischen Rechts.
Mudschahid kündigte an, dass Frauen weiterhin arbeiten gehen dürften, sofern ihre Erwerbstätigkeit im Einklang mit “den Prinzipien des Islam” stehe. Zur geplanten Regierungsbildung nannte er keine Einzelheiten und erklärte lediglich, die Taliban würden “mit allen Seiten in Verbindung treten”.
Mudschahid fungiert seit Jahren als Sprecher der Taliban, bei der Pressekonferenz präsentierte er sich erstmals der Weltöffentlichkeit. Am Dienstag kehrte mit Mullah Abdul Ghani Baradar außerdem ein Mitbegründer und Führungsmitglied der radikalen Islamistenbewegung nach Afghanistan zurück.
Die Machtübernahme der Taliban löste bei vielen Afghanen Angst vor einer neuerlichen Schreckensherrschaft der Islamisten aus. Auch die Furcht vor Vergeltungsakten der Taliban gegen Beschäftigte der früheren afghanischen Regierung und afghanische Mitarbeiter ausländischer Staaten haben dazu geführt, dass zehntausende Menschen das Land verlassen wollen.
Gerüchte, dass ausländische Regierungen Flüchtenden Asyl gewähren, führten am Mittwoch zu einem großen Andrang vor den Botschaften mehrerer Länder in Kabul.
Die Bundeswehr brachte seit der Einrichtung der Luftbrücke nach Regierungsangaben mehr als 400 gefährdete Menschen aus Kabul in Sicherheit, unter ihnen Deutsche und afghanische Staatsbürger. Am Mittwochvormittag wurden 176 Menschen ausgeflogen. Ein Lufthansa-Flugzeug aus der usbekischen Hauptstadt Taschkent mit 131 Evakuierten an Bord war in der Nacht zum Mittwoch in Frankfurt gelandet.
Große Sorge bereitet aber weiterhin insbesondere das Schicksal afghanischer Zivilisten, die es bislang nicht zum Flughafen geschafft haben. Die USA und Deutschland stehen deshalb in Verhandlungen mit den Taliban.
Nach US-Angaben sagten die Islamisten eine “sichere Durchfahrt” für Zivilisten zum Flughafen zu. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) sagte am Dienstagabend jedoch, dass die Taliban nur Ausländer, jedoch keine afghanischen Bürger zum Flughafen durchließen.
Die Bundesregierung schickte deswegen den Diplomaten Markus Potzel in die katarische Hauptstadt Doha, um in Gesprächen mit Taliban-Repräsentanten darauf hinzuwirken, dass auch Ortskräfte zum Flughafen in Kabul begeben können.
Frankreich flog derweil nach Regierungsangaben 216 weitere Menschen aus Kabul aus, unter ihnen 184 besonders schutzbedürftige Afghanen. Großbritannien brachte seit der Machtübernahme der Taliban bereits mehr als 2000 Afghanen sowie gut 300 britische Staatsangehörige außer Landes, wie Premierminister Johnson im Parlament sagte.
Das US-Militär flog bis Dienstag mehr als 3200 Menschen aus Afghanistan aus. Insgesamt wollen die USA nach eigenen Angaben mehr als 30.000 Menschen aus Kabul in Sicherheit bringen.
Quelle: AFP