Radikalislamische Taliban stehen vor Machtübernahme in Afghanistan

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Zwei Jahrzehnte nach der US-geführten Militärinvasion in Afghanistan stehen die Taliban kurz davor, die Macht am Hindukusch wieder an sich zu reißen. Nach dem blitzartigen Vormarsch der Islamisten, die bis auf Kabul inzwischen das gesamte Land erobert haben, spitzte sich die Lage am Sonntag dramatisch zu: Die afghanische Regierung erklärte sich zur “friedlichen Machtübergabe” bereit, Präsident Aschraf Ghani setzte sich nach Angaben seines früheren Stellvertreters ins Ausland ab. Deutschland und weitere westliche Staaten räumten ihre Botschaften in Kabul und brachten ihre Mitarbeiter an den Flughafen, um sie auszufliegen.

Nach einem zehntägigen Eroberungsfeldzug durch Afghanistan waren die Taliban am Sonntag bis an den Stadtrand der Hauptstadt Kabul herangerückt. Nach Angaben eines Taliban-Sprechers hatten die Kämpfer der Miliz Anweisung, an den Stadttoren von Kabul Halt zu machen und nicht in die Stadt vorzudringen.

Innerhalb der “kommenden Tage” wolle die Miliz einen “friedlichen Machttransfer”, sagte ein Taliban-Sprecher der BBC. Kurz zuvor hatte Afghanistans Innenminister Abdul Sattar Mirsakwal eine “friedliche Machtübergabe” an eine “Übergangsregierung” zugesagt. Aus seinem Ministerium verlautete, es seien Verhandlungen mit den Taliban im Gange. “Die Afghanen müssen sich keine Sorgen machen”, sagte Mirsakwal. “Es wird keinen Angriff auf die Stadt geben.”

Der afghanische Präsident Aschraf Ghani floh nach Angaben seines früheren Stellvertreters ins Ausland. “Der frühere afghanische Präsident hat die Nation verlassen”, sagte der Vorsitzende des afghanischen Friedensrats, Abdullah Abdullah, in einem im Internet veröffentlichten Video. 

Zuvor hatte Ghani in einer Videobotschaft die Sicherheitskräfte in Kabul aufgefordert, für Recht und Ordnung in der Hauptstadt zu sorgen. Plünderungen würden nicht geduldet. Es wurde jedoch befürchtet, dass die Hauptstadt, die letzte noch verbliebene Bastion der Regierungstruppen, in Chaos versinken könnte. Tausende Polizisten und andere Sicherheitskräfte hatten zuletzt ihre Posten verlassen, viele ließen ihre Uniformen und Dienstwaffen zurück.  

Unter den Bewohnern von Kabul breitete sich angesichts der bevorstehenden Machtübernahme der Taliban Panik aus. Vor den Banken bildeten sich lange Schlangen. Andere Bewohner waren resigniert: “Ich hoffe einfach nur, dass die Rückkehr der Taliban Frieden bringt. Das ist alles, was wir wollen”, sagte der Ladenbesitzer Tarik Nesami.

Die Islamisten hatten in den vergangenen Tagen eine afghanische Stadt nach der anderen eingenommen, zuletzt auch das strategisch wichtige Dschalalabad im Osten und den früheren Bundeswehr-Standort Masar-i-Scharif im Norden.  

Die Geschwindigkeit des Taliban-Vormarsches seit dem Beginn des Abzugs der Nato-Truppen im Mai löste international Fassungslosigkeit aus. Unter Hochdruck arbeiteten westliche Staaten, darunter Deutschland und die USA, an der Rückführung von Botschaftspersonal sowie der Ausreise von afghanischen Ortskräften aus Kabul.

Die Bundeswehr will am Montag deutsche Staatsbürger und einheimische Ortskräfte aus Kabul ausfliegen. Das Personal der deutschen Botschaft verließ am Sonntag auf Anweisung von Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) das Botschaftsgelände im Stadtzentrum und begab sich an den Flughafen.

Nach “Spiegel”-Informationen sind rund 20 Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Kabul. Hinzu kommen Entwicklungshelfer sowie rund 80 weitere Deutsche, die sich noch in dem Land aufhalten. Zudem sollen rund 300 afghanische Ortskräfte, die in Afghanistan für Deutschland gearbeitet haben, samt ihren Familien ausgeflogen werden.

Trotz des Vorrückens der Taliban verteidigte Präsident Joe Biden die Entscheidung zum Abzug erneut: Er sei der vierte US-Präsident, der die 20-jährige US-Truppenpräsenz in Afghanistan verantworte, sagte er am Samstag. “Ich werde diesen Krieg nicht einem fünften Präsidenten übergeben.” 

Die USA waren nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in Washington und New York an der Spitze einer internationalen Militärkoalition in Afghanistan einmarschiert und hatten die dort herrschenden Taliban von der Macht vertrieben. Begründet wurde der Einsatz damit, dass Afghanistan ein Rückzugsort für Extremisten des Terrornetzwerks Al-Kaida war, das die Anschläge verübt hatte.

Quelle: AFP

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