Bei ihrem Vormarsch in Afghanistan rücken die radikalislamischen Taliban immer näher an die Hauptstadt Kabul heran: Die Islamisten eroberten nun auch die Provinzhauptstadt Ghasni nur 150 Kilometer vor Kabul, wie das Innenministerium am Donnerstag mitteilte. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) kündigte an, im Falle einer kompletten Eroberung Afghanistans durch die Taliban würden die deutschen Finanzhilfen gestoppt. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) schloss einen erneuten internationalen Truppeneinsatz aus.
Die Regierungstruppen haben mittlerweile die Kontrolle über den größten Teil des Nordens und Westens von Afghanistan verloren. Ghasni südlich von Kabul ist bereits die zehnte Provinzhauptstadt, die binnen einer Woche an die Islamisten fiel. Die Regierung in Kabul kontrolliert neben der Hauptstadt lediglich noch eine Handvoll Gebiete und vielerorts belagerte Städte.
Angesichts dieser Entwicklung boten Unterhändler der Regierung den Vertretern der Taliban am Donnerstag bei Verhandlungen in Doha an, die Macht zu teilen und dafür die Kämpfe zu beenden, wie es aus afghanischen Regierungskreisen hieß. Der Friedensprozess, der im September in der Hauptstadt Katars angestoßen worden war, geht jedoch bereits seit Monaten nicht mehr voran.
Die strategisch wichtige Provinzhauptstadt Ghasni liegt an einer zentralen Verbindungsstraße zwischen Kabul und Kandahar. Die afghanischen Streitkräfte sind zunehmend von Verstärkung über den Landweg abgeschnitten. Mit dem Verlust von Ghasni dürfte der Druck auf die ohnehin überlastete Luftwaffe wachsen.
Aus den Städten Laschkar Gah und Kandahar im Süden des Landes, wo die Taliban traditionell stark sind, wurden am Donnerstag weiterhin Kämpfe gemeldet, ebenso wie aus Herat im Westen. Dort nahmen die Islamisten nach Angaben eines AFP-Journalisten das Polizei-Hauptquartier ein. Im Norden hatten die Taliban ohnehin schon eine ganze Reihe von Provinzhauptstädten erobert, darunter die früheren Bundeswehrstandorte Kundus und Faisabad.
Die Taliban brüsteten sich in Onlinemedien mit erbeutetem Kriegsgerät: Gepanzerte Fahrzeuge, schwere Waffen und sogar eine Drohne, die den Kämpfern auf einem verlassenen Stützpunkt in die Hände gefallen war.
Das Auswärtige Amt forderte alle Deutschen “dringend” auf, das Land zu verlassen. Ressortchef Maas kündigte im ZDF an, im Falle einer Eroberung des Landes die deutschen Hilfszahlungen von 430 Millionen Euro pro Jahr einstellen zu wollen. “Wir werden keinen Cent mehr nach Afghanistan geben, wenn die Taliban komplett übernommen haben, die Scharia einführen und dieses Land ein Kalifat wird.”
Kramp-Karrenbauer plädierte ihrerseits im Gespräch mit der Neuen Berliner Redaktionsgesellschaft dafür, dass Hilfsgelder als Druckmittel eingesetzt werden sollten. “Ein Hebel, den wir in der Hand haben, ist die internationale Hilfe”. Für einen erneuten internationalen Einsatz sieht die Ministerin derweil “keine Chance”.
Die Bundesverteidigungsministerin nannte die Geländegewinne der Taliban “sehr, sehr bitter” – “gerade mit Blick auch auf unseren Einsatz in den vergangenen 20 Jahren”. Es sei nicht gelungen, “aus Afghanistan ein anderes Land zu machen, es nachhaltig positiv zu wenden”, sagte sie im Deutschlandfunk.
Hunderttausende sind in Afghanistan bereits vor den Kämpfen geflohen. In Kabul ist in den vergangenen Tagen eine große Zahl an Vertriebenen eingetroffen, die nun zum Teil in Parks und auf öffentlichen Plätzen campieren. Die Hilfsorganisation Caritas International forderte, die humanitäre Hilfe müsse trotz der Gebietsgewinne der Taliban weitergehen und verstärkt werden. Nicht nur die Sicherheitslage sei für die Menschen ein Problem, sondern auch Hunger und die Corona-Pandemie.
Frankreich setzte unterdessen alle Abschiebungen nach Afghanistan aus. Dänemark wiederum gab angesichts des Vorrückens der Taliban bekannt, dass es Ortskräfte seiner Botschaft und seiner Armee in Afghanistan aufnehmen werde.
Quelle: AFP