Wegen des schnellen Vormarsches der radikalislamischen Taliban in Afghanistan setzt Deutschland vorerst alle Abschiebungen in das Land aus. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) begründete seine Entscheidung am Mittwoch mit der verschlechterten Sicherheitslage in dem Hindukusch-Staat: “Ein Rechtsstaat trägt auch Verantwortung dafür, dass Abschiebungen nicht zur Gefahr für die Beteiligten werden.” Sobald die Lage vor Ort es zulasse, “werden Straftäter und Gefährder wieder nach Afghanistan abgeschoben”, kündigte Seehofer an.
Mit seiner Entscheidung vollzog Seehofer einen Kurswechsel. Noch vor wenigen Tagen hatte er sich dafür ausgesprochen, die Abschiebungen nach Afghanistan zumindest für Straftäter fortzusetzen. Nach Angaben des Innenministeriums leben derzeit knapp 30.000 ausreisepflichtige Afghanen in Deutschland.
Die Sicherheitslage in Afghanistan ändere sich derzeit “so rasant”, dass Gefahren für die Abzuschiebenden, die Begleitkräfte und die Flugzeugbesatzungen nicht ausgeschlossen werden könnten, erklärte Seehofer. Grundsätzlich gelte aber: “Abschiebungen sind in einem Rechtsstaat ein wichtiger Teil der Migrationspolitik.”
Die Entscheidung Seehofers kam offenbar auch für sein Ministerium überraschend. Weniger als zwei Stunden vor Bekanntwerden der Aussetzung hatte sein Sprecher Alter auf einer Pressekonferenz mit Blick auf ausreisepflichtige Afghanen gesagt, das Ministerium sei “weiterhin der Auffassung, dass es Menschen in Deutschland gibt, die das Land verlassen sollten, so schnell wie möglich”. Regierungssprecher Steffen Seibert verteidigte in der gleichen Pressekonferenz ebenfalls das bisherige Vorgehen.
Das Bundesinnenministerium hatte nach eigenen Angaben bereits am 3. August einen geplanten Abschiebeflug nach Afghanistan mit sechs inhaftierten Männern kurzfristig abgesagt. Grund seien mehrere Detonationen in der afghanischen Hauptstadt Kabul gewesen, die keine verlässliche Prognose der Sicherheitslage bei Ankunft des Fluges zuließen
Auch die Niederlande setzen nun die Abschiebungen aus. Dies solle für einen Zeitraum von sechs Monaten gelten, erklärte die Staatssekretärin für Justiz, Ankie Broekers-Knol, am Mittwoch. Deutschland und die Niederlande hatten noch vergangene Woche gemeinsam mit Belgien, Dänemark, Griechenland und Österreich die EU-Kommission aufgefordert, Abschiebungen nach Afghanistan weiter zu ermöglichen, was harsche Kritik von Menschenrechtsorganisationen hervorgerufen hatte.
Österreich will vorerst weiter nach Afghanistan abschieben. Als Reaktion auf die deutsche Entscheidung teilte das Innenministerium in Wien am Mittwoch der Nachrichtenagentur AFP mit: “Ein faktisches Aussetzen von Abschiebungen steht derzeit für uns nicht zur Diskussion.”
Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt begrüßte Seehofers Entscheidung und betonte: “Es gibt keine sicheren Gebiete in Afghanistan, es gibt keinen internen Schutz vor der Taliban.”
Auch die Grünen begrüßten Seehofers Schritt. “Viel zu lange hat die Bundesregierung die dramatische Sicherheitslage in Afghanistan aus innenpolitischen Gründen ignoriert”, erklärte die Grünen-Flüchtlingsexpertin Luise Amtsberg.
Kritik kam von der AfD, die eine Fortführung der Abschiebungen forderte. Mit Blick auf den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan erklärte der AfD-Innenpolitiker Gottfried Curio: “Während deutsche Bürger für die Sicherheitslage Afghanistans sterben dürfen, scheint eine Verteidigung ihres eigenen Landes gegen den islamischen Terror wehrfähigen afghanischen Männern nicht zumutbar zu sein.”
Derweil kam Bewegung in die Debatte um die Aufnahme früherer Bundeswehr-Ortskräfte aus Afghanistan – Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) will dies erleichtern. “Wir haben intern mit den Ministerien vereinbart, dass wir auch bereit sind, das normale Visa-Verfahren umzustellen auf ‘Visa upon arrival'”, also Visum bei Ankunft, sagte Kramp-Karrenbauer dem Portal “ThePioneer”. “Die Visa-Verfahren würden wir dann hier durchführen.”
Die afghanische Regierung bestehe aktuell aber darauf, dass die Ausreisenden einen Reisepass besitzen, sagte Kramp-Karrenbauer weiter. Es liefen Gespräche, inwiefern dies geändert werden könnte. Im Moment mache das bisherige Vorgehen das Verfahren langwierig.
Quelle: AFP