Der Vormarsch der radikalislamischen Taliban in Afghanistan scheint derzeit unaufhaltsam. Die Aufständischen nahmen am Freitag mit Sarandsch die erste afghanische Provinzhauptstadt ein. Auch in der wichtigen Stadt Laschkar Gah kontrollieren die Regierungstruppen nur noch wenige Stadtviertel. In der Hauptstadt Kabul erschossen Taliban-Kämpfer einen ranghohen Regierungsbeamten. Medienberichten zufolge führte die Bundesregierung vergangene Woche Geheimgespräche mit Vertretern der Taliban.
Nach Angaben der Vize-Gouverneurin der Provinz Nimros, Roh Gul Chairsad, eroberten die Islamisten am Freitagmittag die im Südwesten Afghanistans an der Grenze zum Iran gelegene Provinzhauptstadt Sarandsch. “Die Taliban haben die Kontrolle über den Gouverneurssitz sowie die Hauptquartiere der Polizei und der Gefängnisverwaltung übernommen”, sagte Chairsad der Nachrichtenagentur AFP. Bislang hatten die Islamisten weite Teile des Landes erobert, aber keine größeren Städte.
In Laschkar Gah, der Hauptstadt der Provinz Helmand, kontrolliert die Regierung nach Angaben einer Hilfsorganisation vor Ort nur noch den Flughafen “und vielleicht noch ein zwei Stadtviertel”. “Den Rest haben die Taliban”, sagte Mike Bonke, Direktor des Afghanistan-Büros der humanitären Organisation Aktion gegen den Hunger.
“Die Taliban sind auch in der Straße von unserem Büro in Laschkar Gah aufgetaucht”, sagte Bonke, der in Kabul sitzt und in regelmäßigem Kontakt mit den Kollegen in Laschkar Gah steht. Demnach respektierten die Kämpfer zunächst, dass die Mitarbeiter der Organisation sie nicht ins Gebäude lassen wollten. “Bis jetzt. Man weiß nicht, wie lange noch.”
Bei einem Luftangriff der afghanischen Regierung war das Büro von Aktion gegen den Hunger am Donnerstag von einer Bombe getroffen worden, obwohl es nach deren Angaben deutlich als Standort einer Hilfsorganisation gekennzeichnet war. Die Mitarbeiter blieben im Bunker des Gebäudes unverletzt, wie die Organisation mitteilte.
“Es gibt jetzt große Angst, denn eigentlich ist großflächige Bombardierung der ganzen Stadt das einzige, was den Regierungstruppen noch bleibt”, sagte Bonke zu AFP. Nach UN-Angaben wurden in Laschkar Gah in den vergangenen Tagen bereits dutzende Zivilisten getötet, Tausende flüchteten vor der Gewalt.
Die afghanischen Streitkräfte kämpfen seit dem Abzug der internationalen Truppen an zahlreichen Fronten gegen die Taliban. Belagert wurden auch die Provinzhauptstädte Herat und Kandahar. In Kabul verübten die Aufständischen Anschläge. Am Freitag gab das afghanische Innenministerium den Tod des Leiters des offiziellen Medieninformationszentrums der Regierung, Daua Khan Menapal, bekannt. Taliban-Kämpfer erschossen ihn demnach in einer Moschee.
Mit der Lage am Hindukusch befasste sich am Freitag auch der UN-Sicherheitsrat in New York. Die UN-Beauftragte für Afghanistan, Deborah Lyons, zeichnete dabei ein düsteres Bild. “Der Sicherheitsrat muss nun unmissverständlich erklären, dass die Angriffe auf Städte aufhören müssen”, sagte sie aus Kabul per Video zugeschaltet.
Die Folgen des Taliban-Vormarschs für die Sicherheit in der Region sind das Hauptthema des Gipfels der zentralasiatischen Staaten in der turkmenischen Küstenstadt Awaza. Der turkmenische Präsident Präsident Gurbanguly Berdymuchamedow bezeichnete Afghanistan im Staatsfernsehen als “die Frage, die uns alle beunruhigt”. Russland hält gemeinsame Militärübungen mit Tadschikistan und Usbekistan nahe der afghanischen Grenze ab.
Während die Gewalt seit Wochen zunimmt, gab es bei den Friedensgesprächen zwischen Taliban und afghanischer Regierung in Katars Hauptstadt Doha keine Fortschritte. Am Rande der Verhandlungen führte die Bundesregierung laut Berichten von ZDF und “Bild”-Zeitung in der vergangenen Woche Geheimgespräche mit Taliban-Vertretern. Die Islamisten hätten dabei versichert, sie wollten sich für den Schutz früherer Ortskräfte der Deutschen in Afghanistan einsetzen.
Quelle: AFP