Mindestopferzahl in Heimatregion darf nicht Voraussetzung für subsidiären Schutz sein

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Bei einem Antrag auf subsidiären Schutz müssen Behörden alle wichtigen Umstände des Einzelfalls berücksichtigen. Eine Mindestzahl an zivilen Opfern in der Herkunftsregion der Flüchtlinge als Ausschlusskriterium anzuwenden, ist dabei nicht rechtens, wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg am Donnerstag entschied. Es ging konkret um zwei Afghanen aus der Provinz Nangarhar, die in Deutschland subsidiären Schutz beantragt hatten. (Az. C-901/19)

Zwar herrscht dort ein bewaffneter Konflikt, doch galt die Region bislang nach deutscher Rechtsprechung nicht als gefährlich genug für die Gewährung subsidiären Schutzes. Denn dafür musste das Tötungs- und Verletzungsrisiko quantitativ ermittelt werden – also das Verhältnis der Opferzahlen zur Gesamtbevölkerung. Wurde dabei eine Mindestschwelle nicht erreicht, musste das Risiko nicht weiter ermittelt werden, wenn der Antragsteller nicht spezifisch betroffen war, und der Antrag wurde abgelehnt.

Der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof in Mannheim hatte Zweifel an diesem Vorgehen. Er setzte den Fall aus und bat den EuGH zu entscheiden, welche Kriterien angelegt werden müssen. Dieser urteilte nun, dass die deutsche Regelung mit der Richtlinie über den internationalen Schutz von Flüchtlingen nicht vereinbar sei.

Die “systematische Anwendung eines einzigen quantitativen Kriteriums” könne dazu führen, dass die Behörden Schutz verweigerten und so nicht die Menschen bestimmten, die diesen Schutz tatsächlich bräuchten, hieß es. Zudem müssten die EU-Staaten hier gemeinsame Kriterien anwenden. Eine Regelung wie die deutsche könne dazu führen, dass Antragsteller in andere EU-Länder auswichen, wo es keine Mindestschwelle gebe. Eine solche Sekundärmigration solle jedoch eingedämmt werden.

Bei der Bestimmung der “ernsthaften individuellen Bedrohung” müssten im Einzelfall alle relevanten Umstände berücksichtigt werden, vor allem die Situation im Herkunftsland, teilte der EuGH mit. Über den konkreten Fall der beiden Afghanen muss nun das Gericht in Mannheim entscheiden. Es ist dabei an die Rechtsauslegung des EuGH gebunden.

Die innenpolitische Sprecherin der Linken-Bundestagsfraktion, Ulla Jelpke, nannte das Urteil “sehr begrüßenswert”. Wieder einmal habe der EuGH die “rigide Rechtsprechung und Asylentscheidungspraxis in Deutschland” korrigieren müssen. “Das war auch dringend notwendig”, erklärte Jeplke. Sie forderte die Bundesregierung auf, das Urteil “wirksam und umfassend” umzusetzen.

Der rechtspolitische Referent der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, Peter von Auer, sah dies ähnlich. “Die bisherige Rechtsprechung in Deutschland ist der tatsächlichen Situation in Afghanistan nie gerecht geworden”, teilte er mit. Dies müsse sich nun ändern, erst recht vor dem Hintergrund der sich weiter zuspitzenden Sicherheitslage am Hindukusch.

Quelle: AFP

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