Einen Tag nach zunächst positiv bewerteten Gesprächen russischer und ukrainischer Unterhändler in Istanbul haben erneute russische Angriffe und widersprüchliche Angaben zum Verlauf der Verhandlungen die Hoffnungen auf eine Entspannung der Lage in der Ukraine zunichte gemacht. Entgegen der russischen Zusicherung vom Vortag wurde nach ukrainischen Angaben die Stadt Tschernihiw am Mittwoch weiter beschossen. Das ukrainische Außenministerium widersprach zudem Aussagen von Russlands Außenminister Sergej Lawrow in Bezug auf eine möglicherweise bevorstehende Einigung zum Status des Donbass und der Krim.
“Im Moment kann man leider nicht feststellen, dass die Russen die Intensität der Feindseligkeiten in Richtung Kiew und Tschernihiw verringern”, sagte Wadym Denysenko, Berater des ukrainischen Innenministers. Auch der ukrainische Generalstab zeigte sehr skeptisch: Der von Moskau angekündigte Truppenabzug bei Kiew und Tschernihiw sei “wahrscheinlich eine Rotation einzelner Einheiten, die darauf abzielt, die militärische Führung der ukrainischen Streitkräfte zu täuschen”.
Nach Gesprächen am Dienstag in Istanbul hatten beide Seiten vor Ort von einer Annäherung gesprochen. Moskau äußerte sich am Mittwoch aber deutlich verhaltener: “Im Moment können wir nichts sehr Vielversprechendes oder irgendeinen Durchbruch vermelden”, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow.
Außenminister Lawrow zeigte sich bei einem Besuch in China zwar zufrieden mit den Verhandlungen. In einem auf Twitter veröffentlichten Video bezeichnete er die Bereitschaft der Ukraine, auf einen Nato-Beitritt zu verzichten, als Fortschritt, “ebenso wie die Einsicht, dass die Fragen der Krim und des Donbass endgültig geklärt sind”.
Dem widersprach der Sprecher des ukrainischen Außenministeriums, Oleg Nikolenko, jedoch vehement: “Die Fragen der Krim und des Donbass werden endgültig geklärt sein, wenn die Ukraine ihre Souveränität über diese Gebiete wiederhergestellt hat”.
Unterstützung für diese Forderung erhielt Kiew von den Krimtataren. Die Vertreter der Volksgruppe forderten die ukrainische Regierung auf, bei den Verhandlungen auf eine Rückgabe der von 2014 Russland annektierten Halbinsel Krim zu bestehen.
Derweil “geht der Krieg weiter”, sagte Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian. “Im Moment gibt es meines Wissens weder einen Durchbruch noch eine Neuigkeit.” Was die russisch-ukrainischen Verhandlungen betreffe, so sei “bislang bei keinem Thema ein Fortschritt erzielt worden”.
Der Gouverneur der Region Tschernihiw meldete, die Stadt sei “die ganze Nacht bombardiert” worden. Die Stadt mit ehemals 280.000 Einwohnern sei noch immer ohne Wasser und Strom, erklärte Wjatscheslaw Tschaus. Nach Mariupol im Südosten ist Tschernihiw die Stadt, die seit Beginn des von Russland am 24. Februar begonnenen Krieges mit am schwersten bombardiert wurde.
Auch der Kiewer Vorort Irpin stand erneut unter Beschuss, nachdem die ukrainischen Streitkräfte die Stadt wieder unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Laut Bürgermeister Oleksandr Markuschin starben dort seit Beginn des Krieges “ungefähr 200 oder 300 Menschen”.
In der Hafenstadt Mariupol wurde nach ukrainischen Angaben ein Gebäude des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) Ziel russischer Luftangriffe. “Feindliche Flugzeuge und Artillerie schossen auf ein Gebäude, das mit einem roten Kreuz auf weißem Grund gekennzeichnet ist”, schrieb Ljudmyla Denisowa, Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, im Online-Dienst Telegram. Mariupol ist seit Wochen von jeglicher Versorgung abgeschnitten und wird von den russischen Streitkräften heftig beschossen. Tausende Menschen starben.
Die ukrainischen Behörden gehen davon aus, dass etwa die Hälfte des ukrainischen Territoriums bereits durch Munition belastet wurde. “Die Gesamtfläche der im Rahmen der russischen Aggression durch Sprengkörper verschmutzten Gebiete beläuft sich auf 300.000 Quadratkilometer”, sagte ein hochrangiger Beamter des ukrainischen Innenministeriums. “Darüber hinaus haben ukrainische Minenräumer seit Beginn des Krieges mehr als 300 Sprengkörper entschärft.”
Quelle: AFP