Die Staatsanwaltschaft München I hat am Donnerstag im Komplex “Wirecard” erstmals Anklage erhoben. Die richtet sich gegen Ex-Wirecard-Chef Markus Braun, den die Staatsanwaltschaft “Dr. B.” nennt, sowie zwei weitere frühere Manager.
Zwei der drei Angeschuldigten befänden sich in Untersuchungshaft, hieß es. “Die Ermittlungen erwiesen sich selbst im Vergleich zu bereits in der Vergangenheit bei der Staatsanwaltschaft München I geführten Wirtschaftsgroßverfahren als außerordentlich schwierig und umfangreich”, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Dutzende Ermittler waren im Einsatz, 340 Firmen, 450 Personen und über 1.100 Bankverbindungen wurden überprüft, sowie 450 Vernehmungen und allein in Deutschland 40 Durchsuchungen durchgeführt. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die Beteiligten innerhalb und außerhalb der Wirecard AG über Jahre hinweg darauf hingearbeitet haben, dass diese als rasant wachsendes, überaus erfolgreiches FinTech-Unternehmen wahrgenommen wurde, das sogar in den DAX 30 aufstieg. “Hierzu erfanden sie angeblich äußerst ertragreiche Geschäfte, vor allem in Asien”. Die Konzernabschlüsse der Jahre 2015 bis 2018 waren falsch und gaben die Verhältnisse des Konzerns unrichtig wieder, da in ihnen angeblich aus sogenanntem TPA-Geschäft stammende Erlöse verbucht waren. Als TPA-Geschäft (TPA = Third Party Acquirer) wurde ein Modell bezeichnet, bei dem die Erbringung von Zahlungsdienstleistungen nicht allein durch den Wirecard-Konzern erfolgte, sondern ein Teil aufgrund fehlender eigener Lizenzen oder aufgrund der Zugehörigkeit eines Händlers zu einem besonders profitablen Hochrisikogeschäft wie z.B. Pornographie oder Glücksspiel auf einen Dritten ausgelagert wurde und Wirecard insoweit lediglich als Vermittler auftrat. Angebliche Haupt-TPA-Partner waren drei Gesellschaften in Dubai, auf den Philippinen und in Singapur. Die Erlöse wurden entweder als direkte Forderungen gegen die TPA-Partner oder als Guthaben auf Treuhandkonten in Singapur verbucht und in die Bilanz aufgenommen, existierten jedoch tatsächlich nicht. Das angeblich durch eine Treuhänderfirma in Singapur verwaltete Guthaben von zuletzt (2018) fast einer Milliarde Euro gab es nach Ansicht der Staatsanwaltschaft zu keinem Zeitpunkt. Entsprechende Saldenbestätigungen wurden gefälscht. “Der Angeschuldigte Dr. B. wusste, dass mit Übernahme der unrichtigen Buchungszahlen die Konzernbilanz ebenfalls falsch wurde, und unterzeichnete als CEO gleichwohl die jeweiligen Abschlüsse”, heißt es in der Erklärung der Staatsanwaltschaft. Im Zeitraum zwischen dem 01.01.2015 und dem 27.04.2019 veröffentlichte die Wirecard AG für die Geschäftsjahre 2015 bis 2018 sowohl unterjährig als auch jeweils mit Veröffentlichung des Konzernabschlusses Prognosen und Ergebnisse, wobei in diese jeweils auch die Ergebnisse aus dem angeblichen TPA-Geschäft einflossen. “Jedem Angeschuldigten war spätestens ab Ende 2015 klar, dass die Wirecard AG mit dem tatsächlichen, realen Geschäft nur Verluste erwirtschaftete, was letztlich in eine Insolvenz münden würde”, so die Staatsanwaltschaft. Mit der Veröffentlichung der erheblich geschönten Zahlen hätten die Beteiligten gegenüber den Anlegern den Eindruck erwecken wollen, dass es sich bei der Wirecard AG um ein geschäftlich erfolgreiches und zahlungskräftiges Unternehmen handelte. “Wäre die wahre Finanzlage veröffentlicht worden, wäre es demgegenüber zu erheblichen Kurseinbrüchen gekommen”, so die Behörde.
“Die Manipulation der Bilanzkennzahlen und deren Veröffentlichung war notwendiger und gewollter Zwischenschritt für die Erlangung von Finanzierungsmitteln für die Wirecard AG”. Das Ganze stelle eine bandenmäßige Begehung dar. “Die Angeschuldigten handelten zudem, um sich selbst eine dauerhafte Einnahmequelle zu schaffen.” Hinsichtlich des Angeschuldigten “Dr. B.” seien beispielsweise Teile der ihm zukommenden Vorstandsvergütung an die Wertentwicklung der Wirecard-Aktie gekoppelt, gewesen.
Er hielt zudem persönlich einen erheblichen Anteil des ausgegebenen Aktienkapitals (zuletzt ca. 7 Prozent), so dass er in entsprechender Höhe an den durch die Wirecard AG ausgeschütteten Dividenden – insgesamt ca. 5,5 Millionen Euro – profitierte. “Darüber hinaus entschied der Angeschuldigte Dr. B. ohne die übrigen Beteiligten, am 22.04.2020 eine Ad-hoc-Mitteilung zum Bericht der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG zu veröffentlichen. In dieser vermittelte er wahrheitswidrig den Eindruck, der anstehende KPMG-Bericht werde die Wirecard AG von allen Vorwürfen der Bilanzmanipulation entlasten. Tatsächlich wurde im Rahmen dieses Berichts festgestellt, dass keine Aussage über die (Nicht-)Existenz des TPA-Geschäfts getroffen werden konnte, da hierfür erforderliche Unterlagen nicht vorgelegt worden waren.”
Die Ad-hoc- Mitteilung war nach Ansicht der Staatsanwaltschaft insoweit zumindest irreführend und geeignet, auf den Preis der Aktie der Wirecard einzuwirken, bzw. wirkte auch tatsächlich darauf ein. Wirecard gewährte zudem einer singapurischen Firma, die dem Umfeld eines anderweitig verfolgten Bandenmitglieds zuzurechnen ist, im Dezember 2019 ein sogenanntes “Security Deposit” in Höhe von insgesamt 40 Millionen Euro. Mit einer Rückführung ist wohl nicht zu rechnen, das Unternehmen ist “nicht mehr erreichbar”, wie die Staatsanwaltschaft feststellte. Das ausgezahlte Geld diente vorgeblich dazu, den angeblichen TPA-Partner in Dubai zu ersetzen. In der Anklage wirft die Staatsanwaltschaft dem Angeschuldigten “Dr. B.” vor, das sein Vorgehen in Anbetracht der gesellschaftsrechtlichen Sorgfaltspflichten nicht mit den Pflichten eines ordentlichen Kaufmanns in Einklang zu bringen sei: Es wurden keinerlei Sicherheiten zugunsten der Wirecard AG und noch nicht einmal eine Pflicht zur Anlage des Security Deposits als Kaution oder eine wie auch immer geartete Zweckbindung vereinbart, ebenso wenig konkrete Rückführungsmodalitäten oder ein Rückführungszeitpunkt. Zudem beteiligte er den Aufsichtsrat der Wirecard AG weder vor noch nach der Entscheidung über die Gewährung des Deposits, obwohl dies erforderlich gewesen wäre. “Hinzu kommt, dass die 40 Millionen Euro zu einem Zeitpunkt gewährt wurden, zu dem parallel eine umfassende KPMG-Sonderuntersuchung im Auftrag des Aufsichtsrats feststellen sollte, ob das TPA-Geschäft überhaupt existierte.” Darüber hinaus lagen dem Angeschuldigten nach Ansicht der Staatsanwaltschaft weder Unternehmens- noch Finanzkennzahlen vor, so dass keine vernünftige Prognose bzw. Kalkulation möglich war, die Entscheidung vielmehr “ins Blaue hinein” getroffen wurde.
Bei der Erhöhung des Deposits von zunächst 10 auf insgesamt 40 Millionen Euro am Abend vor den Weihnachtsfeiertagen 2019 erfolgte nicht einmal eine formelle Beschlussfassung des Vorstands, geschweige denn eine Beiziehung von bzw. Bezugnahme auf schriftliche Unterlagen. “Vielmehr stimmte der Angeschuldigte Dr. B. dem per Mail übermittelten Vorschlag des anderweitig Verfolgten M. ohne nähere Prüfung sofort zu und übte an- schließend Druck auf die weiteren Mitglieder des Vorstands aus, ebenfalls ihre Zustimmung zu erteilen”, so die Staatsanwaltschaft. Einen weiteren Tatkomplex “MCA-Darlehen” beschreibt die Staatsanwaltschaft so: Spätestens 2017 war innerhalb des Vorstands der Wirecard AG entschieden worden, ein angeblich neues Geschäftsfeld zu eröffnen; Dabei sollten über eine vordergründig von der Wirecard AG und den angeblichen TPA-Partnern unabhängige Drittgesellschaft Händler “vorfinanziert” werden; Die Händler sollten eine Art Betriebsmittelkredit erhalten, der dadurch zurückgeführt würde, dass von den abgewickelten Kartenzahlungen Anteile einbehalten würden (MCA – Merchant Cash Advance). Als angeblich neutrale Drittgesellschaft wurde eine Ltd. (Limited) ausgewählt, die in der Finanzierung von Öltransporten tätig war, also nichts mit Kreditkartenzahlungen zu tun hatte, und unter Kontrolle eines Bandenmitglieds stand. Die Ltd. wurde nach mehreren formalen Eigentümerwechseln über Briefkastengesellschaften umbenannt in OCAP und stellte Ende 2017 einen ersten Kreditantrag für MCA-Finanzierungen bei der Wirecard Bank. Tatsächlich war OCAP weder geeignet noch in der Lage, MCA-Geschäfte durchzuführen, so die Staatsanwaltschaft. Da Sicherheiten nicht gestellt werden konnten und weitere formale Kriterien nicht erfüllt waren, wurde der Antrag durch den Vorstand der Wirecard Bank AG zunächst abgelehnt. Hier schaltete sich der Angeschuldigte “Dr. B.” persönlich ein und baute entsprechenden Druck auf, so dass der Kredit gegen eine Bürgschaftsübernahme durch die Wirecard AG schließlich doch gewährt wurde. Zunächst wurden lediglich 10 Millionen Euro ausbezahlt, das so erhaltene Geld jedoch angeblich nicht an Händler weitergeleitet. Dieser Darlehensvertrag und die Bürgschaftsübernahme wurden, obwohl bereits erhebliche Unregelmäßigkeiten auftraten, im Jahr 2019 verlängert. Schon im Oktober 2018 hatte eine weitere Tochtergesellschaft der Wirecard AG der OCAP ein weiteres Darlehen in Höhe von 10 Millionen Euro ausgereicht, dem Ende November 2018 ein zusätzliches Darlehen über 100 Millionen Euro folgte. Die Beschlüsse für letzteren Vorgang seien “allein durch den Angeschuldigten Dr. B und den anderweitig Verfolgten M. ohne die übrigen Vorstandsmitglieder und ohne vorherige Beteiligung des Aufsichtsrats gefasst” worden, so die Staatsanwaltschaft. Erst nach Auszahlung erfolgte eine Billigung durch den Aufsichtsratsvorsitzenden, der das übrige Kollegium nicht einband. “Da sich der Vorstandsvorsitzende der Wirecard Bank zunächst weigerte, wurde er von Dr. B. ausdrücklich angewiesen, den Betrag ohne jeden Aufschub zu überweisen.” Bis Herbst 2019 waren erhebliche Zinsrückstände aufgelaufen und eine Rückzahlung der offenen Forderungen aus den Darlehen nicht absehbar. Zur Verschleierung wurde ein neues Modell unter anderem durch den Angeschuldigten von E. ersonnen, das OCAP zum Schein in die Lage versetzte, diese Darlehen zeitnah zumindest anteilig zurückzuführen. Hierzu wurden vorgeblich der OCAP gegen Dritte zustehende Forderungen verbrieft, die anschließend durch Gesellschaften des Wirecard-Konzerns erworben wurden. Dies sollte nach Ansicht der Ermittler die Jahresabschlussprüfer täuschen, da ansonsten die Darlehen tatsächlich als notleidend einzustufen gewesen wären und hätten abgeschrieben werden müssen. “Dieser Plan wurde unter anderem durch den Angeschuldigten Dr. B. umgesetzt, der unter erheblichen Bedenken sowohl der eigenen Rechtsabteilung als auch externer Kanzleien eine Tochtergesellschaft anwies, tatsächlich wertlose Papiere einer eigens zu diesem Zweck in Luxemburg gegründeten Gesellschaft der OCAP über insgesamt 100 Millionen Euro zu zeichnen”, so die Staatsanwaltschaft. Die so erlangten weiteren Gelder verwendete OCAP zur teilweisen Darlehensrückführung. Am 25.03.2020, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die KPMG-Prüfung in vollem Gange war, fasste “Dr. B.” darüber hinaus zusammen mit den übrigen Vorstandsmitgliedern wohl den Beschluss, weitere 100 Millionen Euro Darlehen an OCAP zu gewähren. Die Auszahlung erfolgte laut Ermittlern am 27.03.2020. Von der OCAP wurde dieses Geld noch am selben Tag in voller Höhe auf ein Konto in Litauen überwiesen, von dem ein Betrag in Höhe von 35 Millionen Euro über ein ebenfalls in Litauen eröffnetes Konto an den anderweitig Verfolgten M. auf dessen Konto weitergeleitet wurde. “M. überwies den erhaltenen Betrag als angebliche Rückzahlung eines Darlehens aus dem Jahr 2017, welches ihm formal durch den Angeschuldigten Dr. B. gewährt worden war, auf ein Konto der Vermögensverwaltungsgesellschaft des Angeschuldigten Dr. B.”, so die Staatsanwaltschaft. Über diese Gesellschaft hatte “Dr. B.” bei einer Bank ein Darlehen über 150 Millionen Euro aufgenommen, das zum Ende des Jahres 2019 fällig gestellt worden war. Die Ablösung dieses Darlehens hatte der Angeschuldigte unter anderem über ein Darlehen der Wirecard Bank refinanziert, so die Ermittler. Da der Aufsichtsrat im März 2020 die Zustimmung zu diesem Darlehen endgültig verweigerte, kündigte die Wirecard Bank das Darlehen über 35 Millionen Euro zum 01.04.2020; Die Rückführung des Darlehens erfolgte mit dem Anteil von 35 Millionen Euro, der dem Angeschuldigten aus der Darlehensgewährung an OCAP zufloss. “Im Zusammenhang mit all diesen Transaktionen verletzte der Angeschuldigte nach Auffassung der Staatsanwaltschaft in evidenter und gravierender Weise seine Verpflichtungen gegenüber der Wirecard AG”, so die Staatsanwaltschaft. Ihm werden deshalb sechs Fälle der Untreue zur Last gelegt, durch die jeweils ein Vermögensverlust großen Ausmaßes herbeigeführt wurde. Spätestens Ende 2015 war nach Ansicht der Emittler allen Angeschuldigten bewusst, dass der Wirecard-Konzern mit den tatsächlichen Geschäften nur Verluste erzielte. Um gleichwohl Erwerbungen vornehmen und laufende Kosten tragen zu können, veranlassten sie in unterschiedlicher Rollenverteilung “unter Einbindung weiterer Bandenmitglieder” und nicht eingeweihter Personen, dass Verhandlungen über die Bereitstellung von Geldmitteln durch Kreditaufnahmen und Ausgabe von Schuldverschreibungen aufgenommen bzw. fortgeführt wurden. Während der Verhandlungen hierüber wurden den jeweiligen Vertragspartnern die aktuellen Geschäftszahlen und weitere Unterlagen vorgelegt, die, wie alle Angeschuldigten angeblich wussten, grob falsch waren, da in ihnen erhebliche Forderungen gegen TPA-Partner und Guthaben auf Treuhandkonten enthalten waren, die tatsächlich nicht existierten. In der irrigen Annahme, mit einem erfolgreichen, prosperierenden, ordnungsgemäß geführten und auf jeden Fall kreditwürdigen DAX-Unternehmen zu verhandeln, wurden von den geschädigten Banken insgesamt vier Kredite in Höhe von rund 1,7 Milliarden Euro ausbezahlt und zwei Schuldverschreibungen von rund 1,4 Milliarden Euro begeben. “Sämtliche angeschuldigten Bandenmitglieder handelten bei diesen sechs Betrugsfällen gewerbsmäßig, da sie so ihre eigenen Gehälter, zu denen teilweise auch erfolgsabhängige Gehaltsbestandteile zählten, sicherten”, so die Staatsanwaltschaft. “Die Fahndungsmaßnahmen gegen das Bandenmitglied M. laufen weiter”, teilten die Ermittler mit. Gemeint ist Jan Marsalek, ehemaliges Vorstandsmitglied der Wirecard AG. Nach ihm wird weltweit gefahndet.
dts Nachrichtenagentur