Mit einem Großangriff seiner Armee auf die Ukraine hat Russland weltweit Erschütterung und Entsetzen ausgelöst. Russische Bodentruppen marschierten am Donnerstagmorgen von mehreren Seiten in die Ukraine ein, in zahlreichen Städten gab es Raketenangriffe. Am Nachmittag lieferten sich russische und ukrainische Soldaten dann bereits Kämpfe nahe Kiew. Dutzende Menschen wurden getötet, in den Außenbezirken der Hauptstadt nahm die russische Armee einen Militärflugplatz ein. Der Westen verurteilte den Einmarsch als Völkerrechtsbruch, die Nato aktivierte ihre Verteidigungspläne.
Russlands Präsident Wladimir Putin hatte die Offensive in der Nacht zum Donnerstag angeordnet. Kurz nach einer Fernsehansprache des Präsidenten rückten russische Truppen von Belarus im Norden sowie vom Süden und Osten aus in die Ukraine ein. In Kiew und in der Hafenstadt Mariupol waren ebenso Explosionen zu hören wie in der Schwarzmeerstadt Odessa, in der zweitgrößten Stadt des Landes, Charkiw, sowie in Kramatorsk und an der Frontlinie zu den ostukrainischen Separatisten-Gebieten.
Wenige Stunden später drangen die russischen Truppen in die Hauptstadtregion Kiew ein. Am frühen Abend (Ortszeit) meldete der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj die Einnahme des nur wenige Kilometer nordwestlich von Kiew gelegenen Militärflughafens Hostomel. Die ukrainische Armee sei angewiesen worden, die “feindlichen Fallschirmjäger zu zerstören” und den Flugplatz zurückzuerobern.
Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko verhängte eine nächtliche Ausgangssperre. Auch in der Nähe des Atommüll-Lagers Tschernobyl wurde nach ukrainischen Regierungsangaben gekämpft.
Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte, die russische Armee habe mehr als 70 militärische Ziele in der Ukraine zerstört, darunter elf Flugplätze. Der Militäreinsatz werde so lange wie nötig andauern, erklärte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow.
Selenskyj verhängte das Kriegsrecht über die gesamte Ukraine und brach die diplomatischen Beziehungen zu Moskau ab. Er rief die Bürger auf, nicht in Panik zu geraten und forderte eine weltweite “Anti-Putin-Koalition”. “Die Welt muss Russland zum Frieden zwingen”, erklärte er nach Krisentelefonaten mit seinen westlichen Partnern. Das Vorgehen Russlands verglich er mit jenem von Nazi-Deutschland zu Beginn des Zweiten Weltkriegs.
In den ersten Stunden des russischen Großangriffs wurden nach Angaben ukrainischer Stellen mindestens 68 Menschen getötet, darunter sowohl Soldaten als auch Zivilisten. Die ukrainische Armee erklärte zudem, sie habe in der Ostukraine rund “50 russische Besatzer” getötet.
Die Nato aktivierte auf Antrag der Militärführung ihre Verteidigungspläne. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte nach einer Dringlichkeitssitzung der 30 Nato-Botschafter in Brüssel, damit könne im Notfall auch die Eingreiftruppe Nato Response Force (NRF) eingesetzt werden, um Mitgliedsländer zu schützen. Sie umfasst bis zu 40.000 Soldaten. Es gebe jedoch “keine Pläne, Nato-Truppen in die Ukraine zu entsenden”, sagte Stoltenberg. Für Freitag berief das Militärbündnis einen Krisengipfel ein.
US-Präsident Joe Biden erklärte, Putin habe sich “für einen vorsätzlichen Krieg entschieden, der zu einem katastrophalen Verlust an Leben und zu menschlichem Leid führen wird” und warnte, die Welt werde “Russland zur Verantwortung ziehen”.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erklärte, der Angriff Russlands sei “ein eklatanter Bruch des Völkerrechts”. Er kündigte noch für Donnerstag weitere “harte Sanktionen” gegen Russland an. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sprach von einem “Tag der Schande”, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron von einem “Wendepunkt in der europäischen Geschichte”.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) verstärkte die Vorbereitungen für eine Reaktion auf mögliche Flüchtlingsbewegungen aus der Ukraine. Die Sicherheitsbehörden hätten zudem “die Schutzmaßnahmen zur Abwehr etwaiger Cyberattacken hochgefahren”, erklärte sie.
Die EU rechnet mit einer hohen Zahl an Flüchtlingen aus der Ukraine. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sagte am Donnerstag, mit allen östlichen Mitgliedstaaten seien “Notfallpläne” vereinbart worden, damit die Menschen sofort aufgenommen werden könnten. Polen kündigte die Errichtung von zunächst neun Erstaufnahmezentren an.
In Kiew suchten zahlreiche Menschen Zuflucht in U-Bahn-Stationen. “Ich bin vom Geräusch der Bombardierungen aufgewacht”, sagte die Kiewerin Maria Kaschkoska der Nachrichtenagentur AFP. “Ich habe eine Tasche gepackt und versucht, zu fliehen.”
Die EU kündigte an, umgehend verschärfte Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte in Brüssel, sie werde den Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedsländer ein weiteres Paket “massiver und gezielter Sanktionen” vorschlagen.
Russland kündigte “harte” Vergeltungsmaßnahmen an. Die “unfreundlichen” Maßnahmen der EU würden Moskau nicht an der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine hindern, betonte das Außenministerium.
Putin hatte in seiner TV-Ansprache seine Behauptung von einem angeblichen “Völkermord” der ukrainischen Truppen an der russischsprachigen Bevölkerung im Osten des Landes wiederholt. “Wir werden uns bemühen, eine Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine zu erreichen”, sagte der Kreml-Chef. Russland habe “keine Pläne für eine Besetzung ukrainischen Territoriums”.
An das Ausland richtete Putin eine drastische Warnung: “Jeder, der versucht, sich bei uns einzumischen, oder mehr noch, eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, muss wissen, dass Russlands Antwort sofort erfolgen und zu solchen Konsequenzen führen wird, wie Sie sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben.”
Quelle: AFP