Spannungen zwischen Paris und London nach Bootsunglück im Ärmelkanal

Copyright AFP Tobias SCHWARZ

Einen Tag nach dem Flüchtlingsdrama im Ärmelkanal mit mindestens 27 Toten verschärfen sich die Spannungen zwischen Paris und London. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron betonte im Gespräch mit dem britischen Premierminister Boris Johnson die “gemeinsame Verantwortung” beider Länder. Er erwarte von den Briten, “dass sie zur Zusammenarbeit bereit sind und darauf verzichten, eine dramatische Lage zu politischen Zwecken zu instrumentalisieren”, hieß es am Mittwochabend im Élysée-Palast in Paris.

Johnson kritisierte seinerseits, dass es Probleme gebe, “manche Partner zu überzeuge, sich der Situation entsprechend zu verhalten, insbesondere die Franzosen”. Er wiederholte sein Angebot, britische Sicherheitskräfte nach Frankreich zu entsenden, um Überfahrten von Migranten über den Ärmelkanal zu verhindern. “Ich hoffe, das ist jetzt akzeptabel geworden im Licht dessen, was passiert ist”, sagte Johnson dem Sender Sky. 

Frankreich hat solche Angebote bislang abgelehnt, weil sie als Eingriff in die eigene Souveränität gelten. Die Innenminister beider Länder, Gérald Darmanin und Priti Patel, sollten am Donnerstag miteinander beraten. 

In nordfranzösischen Calais herrschte unterdessen Trauer und Entrüstung. Am Mittwochabend kamen etwa 50 Menschen zu einem Gedenken an die Opfer zusammen. “Die Katastrophe musste ja so kommen. Und das wird auch wieder passieren”, sagte Christian aus Calais. “Jetzt schieben sich alle gegenseitig die Verantwortung zu, dabei ist es eine Folge der Politik der vergangenen Jahre”, sagte Philippe Demeestère von der Hilfsorganisation Secours Catholique, der im Oktober aus Protest gegen die Lage in Calais 25 Tage lang im Hungerstreik war. 

Bei dem Unglück mit dem Flüchtlingsboot im Ärmelkanal waren am Mittwoch mindestens 27 Menschen ums Leben gekommen. Es handelte sich nach Angaben der Polizei um ein Schlauchboot, aus dem die Luft entwich. Es hatte in Dünkirchen abgelegt. 

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft in Lille handelt es sich bei den Opfern um 17 Männer, sieben Frauen und drei junge Menschen, zu deren Geschlecht und Alter es keine Informationen gab. Zwei Männer, einer aus Somalia und einer aus dem Irak, haben das Unglück überlebt. Sie waren stark unterkühlt, aber schweben nicht in Lebensgefahr. 

Trotz des Unglücks versuchten in der Nacht zu Donnerstag erneut 70 Migranten die Überfahrt von Frankreich nach Großbritannien. “Ich werde es immer wieder versuchen, ich habe keine Wahl”, sagte ein 30 Jahre alter Somalier, der die Überfahrt nicht geschafft hatte. “Ich weiß, dass es gefährlich ist, und dass ich meine Leben riskiere.”

Unterdessen nahmen die französischen Sicherheitskräfte fünf mutmaßliche Schleuser fest. Sie stünden jedoch nicht direkt im Zusammenhang mit den laufenden Ermittlungen, erklärte die Staatsanwaltschaft in Lille. Einer von ihnen habe ein Auto mit einem deutschen Kennzeichen gefahren und möglicherweise Boote aus Deutschland transportiert. 

Kapitän Charles Devos von der französischen Seenotrettung (SNSM) sprach von einem “schockierenden” Drama. “Wir trafen auf ein Schlauchboot, aus dem die Luft entwichen war. Die wenige Luft, die es noch hatte, hielt es über Wasser”, berichtete er nach dem Einsatz.

“Der Ärmelkanal wird allmählich zu einem Friedhof, so wie das Mittelmeer”, sagte Pierre Roques von der Hilfsorganisation L’Auberge des Migrants. 

Nach Angaben der zuständigen Präfektur versuchten seit Jahresbeginn 31.500 Flüchtlinge, von Frankreich über den Ärmelkanal nach Großbritannien zu kommen. Die Zahl hat sich seit August verdoppelt. Rund 7800 Menschen wurden aus Seenot gerettet. Insgesamt starben bei der Fahrt über den Ärmelkanal in diesem Jahr bislang mindestens 34 Menschen oder gelten als vermisst. Nach britischen Angaben sind seit Jahresbeginn etwa 25.700 Migranten über den Ärmelkanal nach Großbritannien gekommen.

In der Gegend von Calais halten sich zahlreiche Migranten auf. Hilfsorganisationen kritisieren, dass Sicherheitskräfte regelmäßig deren Lager räumen und dabei Zelte und Schlafsäcke zerstören. 

Quelle: AFP

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