Bei einem Unglück mit einem Flüchtlingsboot im Ärmelkanal sind mindestens 27 Menschen ums Leben gekommen. Das Boot kenterte nach Angaben der französischen Polizei am Mittwoch vor der Küste nahe Calais. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron versprach, er werde nicht zulassen, dass der Ärmelkanal zu einem „Friedhof“ wird. Er verständigte sich mit dem britischen Premierminister Boris Johnson auf mehr Anstrengungen im Kampf gegen Schlepper.
Kapitän Charles Devos von der französischen Seenotrettung (SNSM) sprach von einem „schockierenden“ Drama. „Wir trafen auf ein Schlauchboot, aus dem die Luft entwichen war. Die wenige Luft, die es noch hatte, hielt es über Wasser“, berichtete er nach dem Einsatz. Das Wrack sei beschlagnahmt worden und werde untersucht, um die Ursachen des Schiffsbruchs zu klären, sagte die Staatsanwältin Carole Etienne der Nachrichtenagentur AFP.
Bis Donnerstagmorgen wurden nach Angaben von Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin fünf mutmaßliche Schleuser festgenommen. Der zuletzt festgenommene Verdächtige habe „ein deutsches Kennzeichen“, sagte er dem TV-Sender RTL. Er habe „Zodiacs in Deutschland gekauft“. Zodiacs sind Schlauchboote mit festem Rumpf. Es gebe „kriminelle Vereinigungen“ in Belgien, Deutschland und England, sagte der Minister weiter. Er forderte, dass die Länder in dieser Frage „zusammen“ arbeiten müssten.
Die Sonderstaatsanwaltschaft in Lille ermittelt wegen „organisierter Beihilfe zur illegalen Einreise“ sowie „fahrlässiger Tötung“. Zwei „offenbar somalische und irakische“ Überlebende des Unglücks sind laut Etienne im Krankenhaus und sollen in Kürze verhört werden. Unter den Toten waren demnach sieben Frauen. Aus Polizeikreisen erfuhr AFP, dass auch ein Jugendlicher und drei Kinder unter den Opfern sein sollen. Laut der Bürgermeisterin von Calais, Natacha Bouchart, war eine der Frauen schwanger.
Rund 50 Menschen versammelten sich am Abend mit Kerzen in der Nähe des Hafens von Calais. Sie riefen unter anderem: „Darmanin, Mörder, du hast Blut an den Händen“.
Es handelt sich um eines der schwersten Schiffsunglücke der vergangenen Jahre im Ärmelkanal, der Frankreich und Großbritannien trennt. In den letzten Jahren hatte die Zahl der Flüchtlinge, die die vielbefahrene Wasserstraße auf Booten überqueren wollen, deutlich zugenommen. Das Thema sorgt schon länger für diplomatische Streitigkeiten zwischen London und Paris.
Er sei „schockiert, empört und zutiefst betrübt“ über das Unglück, sagte der britische Premier Johnson nach einem Krisentreffen seiner Regierung in London. Er wolle gemeinsam mit Frankreich „mehr“ gegen illegale Überfahrten tun, wies jedoch auf Meinungsverschiedenheiten mit Paris hin. London habe „Schwierigkeiten, einige unserer Partner, insbesondere die Franzosen, davon zu überzeugen, der Situation angemessen zu handeln“, sagte er dem Sender Sky News.
Der französische Innenminister spielte den Ball zurück: „Die Antwort muss natürlich auch von Großbritannien kommen“, sagte Darmanin und forderte „eine sehr harte, koordinierte internationale Antwort“.
In einem Telefongespräch am Mittwochabend seien sich Johnson und Macron einig gewesen, dass es „dringend notwendig ist, die gemeinsamen Anstrengungen zu verstärken, um diese tödlichen Überfahrten zu verhindern“, teilte ein britischer Regierungssprecher mit. Es sei „entscheidend, alle Optionen auf dem Tisch zu haben“, um das Geschäftsmodell der Schmugglerbanden zu durchbrechen. Demnach betonten Macron und Johnson auch „die Bedeutung einer engen Zusammenarbeit mit den belgischen und niederländischen Nachbarn sowie mit Partnern auf dem Kontinent“.
Macron forderte „eine Dringlichkeitssitzung der von der Migrationsherausforderung betroffenen europäischen Minister“.
Nach Angaben der zuständigen Präfektur versuchten seit Jahresbeginn 31.500 Flüchtlinge, von Frankreich über den Ärmelkanal nach Großbritannien zu kommen. Rund 7800 Menschen wurden aus Seenot gerettet. Bis Mittwoch kamen mindestens 34 Menschen bei der gefährlichen Überfahrt ums Leben oder gelten als vermisst. Nach britischen Angaben sind seit Jahresbeginn etwa 22.000 Migranten über den Ärmelkanal nach Großbritannien gekommen.
Quelle: AFP