Nach sechsmonatigen Beratungen hat der brasilianische Senat ein gerichtliches Vorgehen gegen Staatschef Jair Bolsonaro wegen dessen Corona-Politik empfohlen. Ein am Mittwoch vorgelegter Untersuchungsbericht zu Verfehlungen des Präsidenten und seiner Regierung im Corona-Krisenmanagement nennt mindestens zehn mögliche Anklagepunkte, darunter Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Bolsonaro wies die Vorwürfe umgehend zurück.
“Wir wissen, dass wir uns absolut nichts zuschulden kommen lassen”, sagte Bolsonaro bei einer Veranstaltung im Bundesstaat Ceará. “Wir wissen, dass wir vom ersten Moment an das Richtige getan haben.”
Der Untersuchungsbericht wird für den rechtsradikalen Präsidenten voraussichtlich keine juristischen Konsequenzen haben, da er die Rückendeckung von Generalstaatsanwalt Augusto Aras hat. Der Bolsonaro-Verbündete dürfte ihn vor jeglicher Anklage schützen. Auch die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen den Staatschef zeichnet sich nicht ab, da er im Kongress ausreichend Unterstützung hat, um ein solches Verfahren abzuwenden.
“Nach sechs Monaten intensiver Arbeit hat dieser parlamentarische Ausschuss Beweise gesammelt, die zeigen, dass die Bundesregierung (…) im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie langsam gehandelt und die Bevölkerung absichtlich einem realen Risiko einer Masseninfektion ausgesetzt hat”, heißt es in dem knapp 1200 Seiten langen Bericht, der an die Staatsanwaltschaft geht und den Senator Renan Calheiros vorstellte.
Die Senatoren forderten weiter eine Anklage wegen “Scharlatanerie”. Der Ausschuss hatte ebenfalls darüber debattiert, dem Präsidenten Totschlag durch Unterlassung und Völkermord vorzuwerfen. Letztlich zogen die Ausschussmitglieder diese Anschuldigungen nach internem Streit aber wieder zurück.
Nach dem Willen des Ausschusses sollen etwa 60 Menschen angeklagt werden, darunter vier Minister und zwei ehemalige Minister. Auch die drei ältesten Söhne des Präsidenten wurden wegen “Anstiftung zu Straftaten” durch die Verbreitung falscher Informationen ins Visier genommen.
“Dieser Bericht ist ein Instrument der Rache gegen Bolsonaro und seine Familie. Es ist offensichtlich, dass weder meine Brüder noch ich und schon gar nicht der Präsident ein Verbrechen begangen haben”, sagte Senator Flávio Bolsonaro, der älteste der Geschwister, kurz vor der Präsentation des Textes.
Der Präsident hat die Gefahren durch das Coronavirus immer wieder verharmlost und Corona-Auflagen der brasilianischen Regional- und Kommunalbehörden wegen ihrer ökonomischen Auswirkungen kritisiert. Von dem Ausschuss waren mehrere Minister und hochrangige Regierungsmitarbeiter sowie Krankenhausmanager und Angehörige von Corona-Opfern angehört worden.
Die Senatoren befassten sich unter anderem mit dem Mangel an Sauerstoff für die Beatmung von Corona-Patienten im Bundesstaat Amazonas. Wegen der unzureichenden Versorgung mit Sauerstoff waren im Januar in Manaus, der Hauptstadt des Bundesstaats, dutzende Patienten gestorben.
Der Ausschuss untersuchte außerdem die Verzögerungen bei der Beschaffung von Corona-Impfstoffen. Weiteres Thema waren Bolsonaros Reden, in denen er scharfe Kritik an Lockdown-Maßnahmen geäußert hatte.
Insgesamt wurden seit Beginn der Pandemie mehr als 600.000 Corona-Tote in Brasilien verzeichnet. Das südamerikanische Land liegt damit weltweit an zweiter Stelle hinter den USA.
Auch wenn der Bericht für den Präsidenten selbst wohl keine juristischen Konsequenzen haben dürfte, könnte er Bolsonaro, der im kommenden Jahr zur Wiederwahl antreten will, politisch schaden. Er steht derzeit wegen schlechter Beliebtheitswerte und mehrerer Ermittlungsverfahren gegen ihn und sein Umfeld stark unter Druck. Umfragen zufolge droht ihm bei der Wahl im nächsten Jahr eine deutliche Niederlage gegen den linksgerichteten Ex-Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva.
Quelle: AFP