Anklageverlesung im zweiten Anlauf: Vor dem Landgericht im schleswig-holsteinischen Itzehoe ist der Prozess gegen eine 96-jährige frühere Sekretärin des NS-Konzentrationslagers Stutthof nach einer durch die zeitweise Flucht der Angeklagten verursachten Verzögerung am Dienstag regulär gestartet. Staatsanwältin Maxi Wantzen warf der Beschuldigten Imgard F. Beihilfe zum Mord und Beihilfe zum Mord in mehr als elftausend Fällen während ihrer Dienstzeit zwischen 1943 bis 1945 vor.
Die Angeklagte habe aufgrund ihrer Tätigkeit für den Kommandanten und dessen Stab Kenntnis über alle Befehle sowie Vorgänge gehabt und sei “bis ins Detail” über die systematisch praktizierten Mordmethoden in dem Lager informiert gewesen, sagte Wantzen. Sie habe dabei durch ihre Arbeit “die reibungslose Funktionsfähigkeit des Lagers” gesichert und Beihilfe zu grausamem und heimtückischem Mord begangen.
Dem Prozessauftakt vor etwa drei Wochen hatte sich F. durch einen überraschende Flucht aus ihrem Altersheim entzogen. Das vereitelte auch die Verlesung der Anklage, weil dies nur in Anwesenheit des Beschuldigten möglich ist. Der Prozess begann daher lediglich mit einigen Formalien. Die Angeklagte wurde nach wenigen Stunden gefasst und kam zeitweise in Untersuchungshaft.
Nach wenigen Tagen entließ sie das Gericht gegen nicht näher genannte “Sicherungsmaßnahmen”, die neue Fluchten verhindern sollen. F., die am Dienstag in einem Krankentransportstuhl in den Verhandlungsaal geschoben und von einer Mitarbeiterin des gerichtsmedizinischen Diensts begleitet wurde, äußerte sich nicht. Die weißhaarige Frau mit schmaler Brille und einer weiten weißen Jacke blickte umher, wirkte aber größtenteils unbeteiligt.
“Frau F. wird sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht äußern – sie wird auch keine Fragen beantworten”, erklärte ihr Verteidiger Wolf Molkentien für sie. Er verlas zugleich ein Auftaktstatement der Verteidigung, in dem er unter anderem in Frage stellte, ob seine Mandantin allein aufgrund ihrer Tätigkeit tatsächlich umfassend über das Mordgeschehen im Lager im Bilde gewesen sei. Aus Sicht der Verteidigung sei die Frage jedenfalls noch offen, sagte er.
Zugleich warb Molkentien auch um Verständnis für den Unwillen der Angeklagten zu dem Prozess. Sie verstehe nicht, warum sie für ihre seit Jahrzehnten bekannte Tätigkeit in Stutthof erst in hohem Alter aufgrund von Veränderungen in den juristischen Auffassungen zu nationalsozialistischen Massenverbrechen vor Gericht stehe. “Aus Sicht der Angeklagten überwiegt im Moment der Aspekt der Zumutung.” Sie bestreite aber keinesfalls die Verbrechen des Holocausts, die dabei völlig außer Frage stünden.
Im Lager Stutthof bei Danzig hatte die SS während des Zweiten Weltkriegs mehr als hunderttausend Menschen unter erbärmlichen Bedingungen gefangen gehalten, darunter viele Juden. Etwa 65.000 starben nach Erkenntnissen von Historikern. Das Lager war berüchtigt für die absichtlich völlig unzureichende Versorgung der Gefangenen, die lebensfeindliche Bedingungen zur Folge hatte. Die meisten Menschen starben an Seuchen, Entkräftung und Misshandlung. Es gab jedoch auch eine Gaskammer und eine Genickschussanlage.
Wantzen verwies bei der Verlesung der Anklage unter anderem auf die Qualen der Opfer in der Gaskammer. “Sie zerkratzten sich in ihrer Todesangst die Körper”, sagte sie. Dazu sei in dem ab 1944 völlig überbelegten Lager etwa auch die systematische “Tötung durch Herbeiführung und Aufrechterhaltung lebensfeindlicher Bedingungen” gekommen. All dies sei F. durch ihren Arbeit “im unmittelbaren Dienstbereich der SS” dabei genau bekannt gewesen.
Der Prozess läuft vor einer Jugendkammer, weil F. während ihrer Zeit in Stutthof 18 bis 19 Jahre alt war. Es ist zugleich eines von mehreren Verfahren gegen Angehörige der Mannschaften von NS-Lagern, die in den vergangenen Jahren noch stattfanden. Zuletzt verurteilte das Landgericht Hamburg im Juli 2020 einen 93-jährigen früheren Stutthof-Wachmann zu zwei Jahren auf Bewährung. Vor etwa zwei Wochen begann in Neuruppin darüber hinaus ein Prozess gegen einen hundertjährigen früheren Wachmann des KZ Sachsenhausen.
Quelle: AFP