Luftschüsse und Extremisten im Freudentaumel: Die Taliban haben sich nach dem vollständigen Abzug der USA aus Afghanistan als unbezwingbare Sieger über die Supermacht inszeniert. Am Dienstag übernahmen die Islamisten die Kontrolle am Kabuler Flughafen – in den vergangenen zwei Jahrzehnten Symbol der internationalen Truppenpräsenz am Hindukusch. Mit dem Westen wollen die Taliban nach eigener Darstellung “gute Beziehungen”. Doch die Furcht vor einer neuen islamistischen Schreckensherrschaft bleibt.
Genau eine Minute vor Mitternacht hob am Montagabend die letzte US-Militärmaschine am Flughafen von Kabul ab – wenig später feierten die Taliban auf der Landebahn ihren Triumph. “Glückwunsch an Afghanistan, dieser Sieg gehört uns allen”, sagte Taliban-Sprecher Sabihullah Mudschahid auf der Landebahn des Flughafens. Die Taliban-Spezialeinheit “Badri 313” marschierte demonstrativ auf.
Auch in anderen Teilen des Landes feierten Taliban-Anhänger den endgültigen Abzug der ausländischen Truppen: In Kandahar, der Geburtsstätte der Taliban, strömten tausende Menschen auf die Straßen, schwenkten Fahnen und riefen “Gott ist groß”.
Trotz des betont moderaten Auftretens der Taliban seit ihrer Machtübernahme vor gut zwei Wochen fürchten sich viele Afghanen vor der Zukunft. Während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 hatten die Taliban Frauen massiv unterdrückt und auf ein brutales Rechtssystem gesetzt.
Nicht wiederholen soll sich aus Sicht der Taliban die internationale Isolation Afghanistans während ihrer damaligen Herrschaft. “Wir wollen gute Beziehungen mit den USA und der Welt”, unterstrich Mudschahid am Dienstag. Die Sicherheitskräfte der Taliban seien “sanftmütig und nett”.
Was dies konkret etwa für Frauen und Minderheiten, aber auch für die zahlreichen Menschen bedeutet, die Afghanistan verlassen wollen, ist unklar. Die Frauenrechtsaktivistin Fawsia Koofi appellierte an die Taliban, ihrem Versprechen zur Bildung einer inklusiven Regierung nachzukommen. “Dieses Land gehört uns allen!”, twitterte sie.
Die internationale Aufmerksamkeit dürfte sich in den kommenden Tagen vor allem darauf richten, ob die Taliban schutzbedürftige Afghanen sowie ausländische Staatsbürger ungehindert ausreisen lassen. Eine entsprechende Resolution hatte am Montag der UN-Sicherheitsrat verabschiedet.
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) betonte am Dienstag in Islamabad, Verhandlungen zur Ausreise von Deutschen und schutzbedürftigen Afghanen liefen. Sobald der Kabuler Flughafen wieder genutzt werden könne, sei auch eine Ausreise mit Charterflügen wieder denkbar.
Bei ihrer chaotischen Evakuierungsmission mussten die USA und ihre Verbündeten zehntausende afghanische Ortskräfte und deren Angehörige zurücklassen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ging am Dienstag davon aus, dass allein bis zu 40.000 frühere Mitarbeiter deutscher Stellen und deren Angehörige auf ihre Ausreise warten. Insgesamt wurden seit Beginn der Luftbrücke Mitte August mehr als 123.000 Menschen aus Afghanistan ausgeflogen.
Die USA und ihre Nato-Partner waren nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in Afghanistan einmarschiert. In kurzer Zeit vertrieb das Militärbündnis die Taliban, die Al-Kaida Unterschlupf gewährt hatten, von der Macht. Zur Ruhe kam Afghanistan aber nie, der blutige Konflikt zog sich über knapp zwei Jahrzehnte und gilt als “längster Krieg” in der US-Geschichte.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg räumte in einem AFP-Interview ein, dass das Militärbündnis seine Fehler in Afghanistan aufarbeiten müsse. Zugleich betonte der Norweger die andauernde internationale Verpflichtung für die Afghanen. “Wir werden sie nicht vergessen.” Zentral sei, dass der Flughafen von Kabul offen bleibe – “sowohl um humanitäre Hilfe nach Afghanistan zu bringen als auch um sicherzustellen, dass wir weiterhin Menschen rausbekommen.”
Der Flughafen Kabul glich nach dem Abzug der letzten US-Soldaten einem Trümmerfeld. Bevor sie Afghanistan verließen, hatten die US-Truppen dutzende gepanzerte Fahrzeuge, Flugzeuge sowie das Raketenabwehrsystem C-Ram auf dem Flughafen funktionsuntüchtig gemacht.
US-Präsident Joe Biden dankte seinen Militärkommandeuren und den beteiligten Soldaten für den Einsatz. Sie hätten den “gefährlichen” Abzug “ohne weiteren Verlust amerikanischer Leben” zu Ende gebracht, erklärte Biden am Montag. Am Dienstagabend (20.45 Uhr MESZ) wollte sich Biden erneut äußern.
Quelle: AFP