Die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Europa nimmt nach einem zehnwöchigen Rückgang erstmals wieder zu. Angetrieben von “Reisen, Zusammenkünften und Lockerungen der sozialen Beschränkungen” sei die Fallzahl vergangene Woche um zehn Prozent gestiegen, sagte der Regionaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Europa, Hans Kluge, am Donnerstag bei einer Pressekonferenz in Kopenhagen. Europa drohe eine neue Pandemie-Welle, “es sei denn, wir bleiben diszipliniert”.
Länder wie Portugal und Großbritannien haben derzeit mit einer Zunahme der Corona-Neuinfektionen zu kämpfen. Die Entwicklung wird insbesondere auf die Ausbreitung der hochansteckenden Virus-Variante Delta zurückgeführt. In Deutschland sind die Fallzahlen weiterhin rückläufig. Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz lag am Donnerstag bei 5,1 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Allerdings nimmt auch hierzulande der Anteil der Delta-Variante an den Neuinfektionen rapide zu.
Delta verdränge die zunächst in Großbritannien festgestellte Coronavirus-Variante Alpha “sehr schnell”, sagte Kluge. Die EU-Krankheitsbekämpfungsbehörde ECDC hatte vergangene Woche prognostiziert, die Delta-Variante könnte bis Ende August 90 Prozent der Corona-Neuinfektionen in Europa ausmachen.
Auch für seinen Zuständigkeitsbereich, der 53 Länder und Gebiete in Europa, aber auch Zentralasien umfasst, rechnet Kluge damit, dass Delta vorherrschend wird. In keinem der Länder sei die Corona-Impfkampagne so weit gediehen, dass sie den notwendigen Schutz vor der Delta-Ausbreitung biete, sagte er.
In der WHO-Region Europa liegt der Anteil der Geimpften an der Bevölkerung seinen Angaben zufolge bei 24 Prozent. Die Hälfte der älteren Menschen und 40 Prozent der Mitarbeiter im Gesundheitssektor seien noch nicht immunisiert worden. “Das ist inakzeptabel und es ist weit weg von der empfohlenen Abdeckung von 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung”, kritisierte Kluge.
Die WHO forderte außerdem bessere Maßnahmen, um eine Ausbreitung des Coronavirus durch Zuschauer der Spiele der Fußball-Europameisterschaft zu verhindern. “Wir müssen viel weiter schauen als nur auf die Stadien”, sagte die Notfall-Beauftragte der WHO Europa, Catherine Smallwood, in Kopenhagen.
Auch die Anreise der Fans etwa in Bussen und die Einhaltung individueller Schutzmaßnahmen müsse in den Blick genommen werden. Dies gelte ebenso für Menschenansammlungen nach den Spielen, etwa das gemeinsame Feiern von Fans in vollen Lokalen. Es sei bekannt, dass “große Massenzusammenkünfte als Beschleuniger bei der Übertragung” wirken könnten, sagte Smallwood. Dies sei nicht nur bei der EM, sondern auch bei anderen Großveranstaltungen zu beachten.
Auf die Frage, ob die EM ein “Superspreader”-Ereignis sei, antwortete Kluge: “Ich hoffe nicht (…). aber das ist nicht auszuschließen.”
In den vergangenen Wochen wurden bereits hunderte Corona-Infektionen unter EM-Stadionbesuchern registriert, unter anderem bei Schotten nach ihrer Rückkehr aus London und bei Finnen nach einem Besuch in St. Petersburg. Trotz der gegenwärtig starken Ausbreitung der Delta-Variante in den beiden Städten finden das EM-Viertelfinale Schweiz gegen Spanien am Freitag in St. Petersburg und die Halbfinalspiele und das Endspiel in London statt.
Quelle: AFP