US-Präsident Joe Biden will an diesem Samstag das Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs voraussichtlich offiziell als Völkermord anerkennen. Der Schritt dürfte das Verhältnis der USA zur Türkei erheblich belasten, die eine Einstufung als Völkermord vehement ablehnt. In einem Telefonat mit seinem türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdogan warb Biden am Freitag nach Angaben des Weißen Hauses für “konstruktive” Beziehungen zwischen Washington und Ankara.
Biden hatte während des Präsidentschaftswahlkampfs angekündigt, die Massaker an den Armeniern vor mehr als hundert Jahren als Völkermord anerkennen zu wollen. Vor genau einem Jahr sagte der Demokrat: “Wir dürfen diese schreckliche und systematische Vernichtungsaktion niemals vergessen oder darüber schweigen. Wenn wir Genozide nicht vollständig anerkennen, an sie erinnern und unsere Kinder darüber aufklären, verlieren die Worte ‘Nie wieder’ ihre Bedeutung.”
Eine Sprecherin des US-Außenministeriums hatte am Freitag erklärt, zum “Genozid an den Armeniern” sei für Samstag eine Stellungnahme des Präsidenten zu erwarten. Später stellte ein Ministeriumsvertreter klar, die Verwendung des Begriffs “Genozid” durch die Sprecherin stelle noch keinen Positionswechsel der USA dar. Ein solcher müsse vom Weißen Haus verkündet werden.
Der 24. April 1915 markierte den Beginn der Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich. Schätzungen zufolge wurden damals von den Soldaten des Osmanischen Reiches zwischen 1,2 und 1,5 Millionen Armenier getötet. Die Türkei wehrt sich vehement gegen die Verwendung des Begriffs Völkermord und spricht von einem Bürgerkrieg, in dessen Verlauf auf beiden Seiten Hunderttausende ihr Leben verloren.
Der Bundestag hatte die Massaker an den Armeniern im Juni 2016 als Völkermord eingestuft. Dies löste eine schwere diplomatische Krise mit der Türkei aus. Im Dezember 2019 erkannte auch der US-Kongress in einem symbolischen Votum die Massaker als Völkermord an.
Die offizielle Einstufung der Massaker als Völkermord in den USA dürfte die Beziehungen zwischen den Nato-Partnern zusätzlich belasten. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte Biden diese Woche vor einem solchen Schritt gewarnt. “Wenn die USA die Beziehungen verschlechtern wollen, ist das ihre Entscheidung”, erklärte er. Am Donnerstag forderte Erdogan seine Berater auf, “die Wahrheit gegen jene zu verteidigen, die die Lüge zum sogenannten ‘Genozid an den Armeniern’ vertreten”.
Sowohl Ankara als auch Washington zeigten sich nach dem Telefonat zwischen Biden und Erdogan bemüht, die positiven Aspekte des Verhältnisses herauszustellen. Laut dem Weißen Haus vereinbarten die beiden Staatschefs ein bilaterales Treffen am Rande des Nato-Gipfels in Brüssel am 14. Juni. Die türkische Seite erklärte, Erdogan und Biden seien sich über die Bedeutung ihrer Zusammenarbeit einig gewesen.
In Armenien zogen derweil tausende Menschen zum Gedenken an die Opfer der Massaker von der Hauptstadt Eriwan zum nahe gelegenen Mahnmal Zizernakaberd. Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan stellte eine Parallele zwischen den Massakern des Ersten Weltkriegs und der bewaffneten Eskalation in der Südkaukasus-Region Bergkarabach im vergangenen Jahr her. “Die aserbaidschanisch-türkische Aggression” habe das Ziel gehabt, “die armenischen Spuren” in Bergkarabach “auszulöschen”, erklärte er. “Die expansionistische Außenpolitik der Türkei und die territorialen Ansprüche gegenüber Armenien sind Beweis der Rückkehr ihrer genozidalen Ideologie.”
Aktivisten der nationalistischen Partei Daschnaktsutyun, die maßgeblich an der Organisation des Trauermarsches beteiligt war, verbrannten Flaggen der Türkei und des Nachbarlands Aserbaidschan. Ankara unterstützt Aserbaidschan militärisch im Berg-Karabach-Konflikt, der vergangenes Jahr in einem bewaffneten Konflikt eskalierte. Dass Armenien in der Folge große, jahrzehntelang von ihm kontrollierte Gebiete an Aserbaidschan abtreten musste, wird als nationale Demütigung empfunden.
Der Massaker an den Armeniern gedachte am Samstag auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit einem Besuch des Denkmals für die Opfer in Paris. Frankreich hatte die Massaker an den Armeniern 2001 als Völkermord anerkannt; 2019 erklärte Macron den 24. April zum nationalen Gedenktag.
Quelle: AFP