Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) hat in Sachsen zwischen 2014 und 2019 insgesamt 712 antisemitische Vorfälle erfasst. Mit 55 Prozent ereignete sich mehr als die Hälfte dieser Vorfälle in den drei Großstädten Dresden, Leipzig und Chemnitz, wie die Recherchestelle am Dienstag berichtete. Fast ein Drittel der antisemitischen Vorfälle gab es in Kleinstädten und im ländlichen Raum.
Es müsse von einem “erheblichen Dunkelfeld” nicht bekannter antisemitischer Vorfälle ausgegangen werden, sagte Rias-Geschäftsführer Benjamin Steinitz. In vielen Fälle komme es nicht zur Anzeige, weil die Betroffenen sich nicht ernst genommen fühlten oder sich kaum Erfolgschancen ausrechneten.
Die Recherchestelle trug Daten aus der Polizeistatistik und von zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen. Solche Problemberichte wurden bereits für andere Bundesländer veröffentlicht, etwa Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt oder Baden-Württemberg.
Steinitz zufolge gibt es überall ein einheitliches Grundmuster. “Der Antisemitismus durchdringt den Alltag der jüdischen Gemeinden.” Zudem komme es zu Vermeidungsstrategien, etwa indem sich Juden nicht als solche zu erkennen gäben.
Neben Berlin gebe es mit Dresden zudem keine andere Stadt, in der es über Jahre hinweg auf Versammlungen rassistische und antisemitische Äußerungen sowie eine Bagatellisierung und Leugnung des Holocausts gegeben habe. Steinitz nannte vor allem die rechtsextremen Aufmärsche zum Jahrestag der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg sowie die Pegida-Demonstrationen.
Die Vorsitzende des Landesverbands Sachsen der jüdischen Gemeinden, Nora Goldenbogen, sagte in der Videokonferenz, viele Juden im Freistaat spürten eine Zunahme von Antisemitismus. Dabei gehe es nicht nur um gewalttätige Angriffe, “sondern das, was im Alltag passiert”.
Die Recherchestelle erfasste in Sachsen im Untersuchungszeitraum insgesamt 16 antisemitische Angriffe, 43 Bedrohungen, 68 Sachbeschädigungen, sechs Fälle von Massenzuschriften und 579 Fälle verletzenden Verhaltens. Letzteres schließt auch 48 Versammlungen ein, auf denen antisemitische Inhalte in Reden, auf Schildern oder Flyern verbreitet wurden. Es wurde kein Vorfall extremer Gewalt registriert.
Ein Beispiel ist das Chemnitzer Restaurant “Schalom”, das in dem genannten Zeitraum unter anderem mehr als tausend antisemitische Anrufe erhielt. Das Restaurant wurde 2018 zudem von mutmaßlichen Rechtsextremen angegriffen und der Inhaber durch einen Steinwurf verletzt. Die Ermittlungen dazu laufen noch.
Der Beauftragte der sächsischen Landesregierung für das jüdische Leben, Thomas Feist (CDU), kündigte an, dass es wie im Koalitionsvertrag von CDU, Grünen und SPD vereinbart eine Melde- und Beratungsstelle für antisemitistische Vorfälle geben werde. Er sei optimistisch, dass in diesem Jahr mit der Einrichtung der Stelle begonnen werde. Auch in anderen Bundesländern gibt es bereits solche Meldestellen.
Quelle: AFP