Im Wirecard-Skandal rückt zunehmend die Rolle der Politik in den Fokus. Im Herbst vergangenen Jahres setzte sich das Bundeskanzleramt für den Zahlungsdienstleister und dessen damals geplanten Markteintritt in China ein, wie eine Regierungssprecherin der Nachrichtenagentur AFP bestätigte. Derweil führt laut „Spiegel“ die Spur des flüchtigen Ex-Wirecard Vorstands Jan Marsalek nach Belarus.
Im Kanzleramt wurde Wirecard kurz vor einer China-Reise von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zum Thema. Der frühere Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, der sich für Wirecard einsetzte, sprach laut der Regierungssprecherin am 3. September 2019 mit Merkel. Danach habe er eine E-Mail an Merkels Wirtschaftsberater Lars-Hendrik Röller geschickt, in der er „über den beabsichtigten Markteintritt von Wirecard in China unter Beifügung eines Kurzsachstandes unterrichtet und um Flankierung im Rahmen der China-Reise gebeten“ habe.
Die Reise fand am 6. und 7. September 2019 statt. Am 8. September antwortete Röller den Angaben zufolge Guttenberg per E-Mail und teilte mit, „dass das Thema bei dem Besuch in China zur Sprache gekommen ist“. Er habe außerdem „weitere Flankierung zugesagt“, erklärte die Regierungssprecherin am Samstag weiter. Über den Vorgang hatte zuerst der „Spiegel“ berichtet.
Der Grünen-Finanzpolitiker Danyal Bayaz erklärte, es stelle sich die Frage, ob im Fall Wirecard „in dieser Bundesregierung irgendjemand auch mal etwas richtig gemacht hat“. Dies betreffe offenbar auch das Bundeskanzleramt. „Da tun sich Abgründe eines kollektiven Dilettantismus auf“, urteilte Bayaz.
Die Bundesregierung dürfe nicht länger „scheibchenweise“ mit der Wahrheit herausrücken, erklärte Bayaz. „Es wird und muss alles schnellstmöglich aufgeklärt werden – da kann es keine Sommerpause geben.“ Bayaz stellte ebenso wie der FDP-Finanzpolitiker Florian Toncar und der Linken-Finanzexperte Fabio Di Masi die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses in den Raum.
Wirecard hatte eingestanden, dass in der Jahresbilanz 1,9 Milliarden Euro fehlen und das Geld vermutlich gar nicht existiert. Der Börsenkurs des Dax-Konzerns stürzte ab, das Unternehmen meldete Insolvenz an. In dem Fall ermittelt die Staatsanwaltschaft München I.
In der Kritik stehen wegen Wirecard auch die Finanzaufsichtsbehörde Bafin und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD). Dieser war nach Angaben seines Ministeriums bereits am 19. Februar 2019 darüber unterrichtet worden, dass die Bafin bei Wirecard wegen Marktmanipulation ermittelt.
Scholz trage „die Gesamtverantwortung dafür, wie in seinem Zuständigkeitsbereich mit dem Skandal umgegangen wurde“, sagte der CSU-Finanzpolitiker Hans Michelbach der „Passauer Neuen Presse“. „Hätte er auf frühzeitige Hinweise reagiert, wäre der große Schaden für viele Anleger zu vermeiden gewesen.“
Bafin-Präsident Felix Hufeld wies Vorwürfe gegen seine Behörde zurück. „Wir erfüllen genau die Aufgaben, die uns der Gesetzgeber vorgibt – alles andere ist in einer Demokratie nicht zulässig.“ Bei der Regulierung von Technologiefirmen gibt es laut Hufeld Reformbedarf.
Als eine mögliche Schlüsselfigur des Skandals gilt der Ex-Wirecard-Vorstand Marsalek. Laut „Spiegel“ könnte er sich in Belarus oder Russland aufhalten. Im russischen Ein- und Ausreiseregister, das auch das benachbarte Belarus umfasse, sei für Marsalek eine Eintragung nur Stunden nach seiner Freistellung bei Wirecard zu finden. Demnach sei Marsalek über den Flughafen der Hauptstadt Minsk eingereist. Eine Wiederausreise Marsaleks wurde laut „Spiegel“ bislang nicht verzeichnet.
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